Ohne Intuition gibt es keine Innovation

PrintMailRate-it
​​​​​​​​​​​​​​​​veröffentlicht am 18. Juni ​2024 | Lesedauer ca. 3 Minuten
 

Der Entschluss das eigene Unternehmen international auszurichten, ist nicht einfach. Meist gehen der Entscheidung die monatelange Sammlung, Analyse und Auswertung unzähliger Informationen sowie riesiger Datenmengen voraus. Zwar ist dies zweifellos wichtig, um fundierte Geschäftsentscheidungen zu treffen, jedoch stellt der rich­​tige Umgang mit den erhobenen Daten Unternehmen auch vor gewisse Heraus­​forde­​rungen. So besteht zum einen grundsätzlich die Gefahr, die zur Verfügung stehenden Informationen nur aus der eigenen Perspektive zu beurteilen und dabei unter anderem wichtige Aspekte vor Ort zu übersehen. Zum anderen verleitet die schiere Masse an Daten dazu, diesen einen viel zu hohen Stellenwert im Entscheidungs­​prozess beizu­messen und die Verantwortung für relevante Urteile somit von sich zu schieben.

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer kommentiert

​Prof. Gerd Gigerenzer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, leitet das Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam und ist Vizepräsident des European Research Councils (ERC). Er war Professor an der University of Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor an der School of Law der Universität von Virginia und ist Ehrendoktor der Universität Basel sowie der Open University of the Netherlands. Gigerenzer hat den Preis der American Association for the Advancement of Science (AAAS) für den besten Zeitschriftenartikel in den Verhaltenswissenschaften, den Deutschen Psychologie-Preis und den Communicator-Preis erhalten. Er trainiert Manager, Ärzte und amerikanische Bundesrichter im Umgang mit Risiken und Unsicherheiten. Seine mehrfach ausgezeichneten Sachbücher Das Einmaleins der Skepsis, Bauchentscheidungen, Risiko und Klick wurden in 21 Sprachen übersetzt. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der 100 einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.
​         

 


Ein Phänomen, das sich meinen Studien zufolge gerade bei großen Firmen häufig beobachten lässt. Immer weniger Führungskräfte zeigen sich heutzutage bereit, die Verantwortung für einen Beschluss zu übernehmen, der nicht durch vermeintlich harte Fakten gestützt ist. 

Die Ursache hierfür liegt in der heutigen Begründungskultur. Es scheint zunehmend wichtiger, eine falsche Entscheidung gut zu begründen, als eine richtige, auf Intuition und Erfahrung gestützte Entscheidung zu treffen. Diese Angst vor dem Eingeständnis intuitiver Entscheidungen führt dazu, dass Entscheidungsprozesse im Unternehmen verlangsamt werden, sich über Monate hinziehen und letztendlich unnötig Ressourcen verschwendet werden – alles nur, um den Eindruck zu vermeiden, dass es sich um eine Bauchentscheidung handelt, für die man persönlich die Verantwortung übernehmen muss. 

Im schlimmsten Fall kann es sogar zu einer sogenannten defensiven Entscheidung kommen, sprich aus Sorge persönlich die Verantwortung für eine potenziell falsche Beurteilung übernehmen zu müssen, wird lieber eine argumentativ besser belegbare, wenn auch als falsch empfundene Entscheidung empfohlen. Anonymen Aussagen von Managern, Vorständen und Abteilungsleitern zufolge, ist jede dritte, in einer Gruppe getroffene Entscheidung heute defensiv motiviert. Das bedeutet, dass in einem maßgeblichen Anteil der Fälle nicht im besten Sinne für das Unternehmen gehandelt wird. 

Ein Trend, der durch die zunehmende Informationsflut im Zuge von Digitalisierung und der Nutzung Künstlicher Intelligenz in Recherche- und Datenaufbereitungsprozessen noch zunehmen wird. Befragungen zeigen, dass die Kenntnisse über die Leistungsfähigkeit und das genaue Vorgehen einer KI doch eher rudimentär und von falschen Vorstellungen geprägt sind. Um das volle Potenzial einer KI nutzen und die Ergebnisse im entsprech­enden Kontext betrachten zu können, ist es unerlässlich, sich im Vorfeld adäquat mit den Möglichkeiten, aber auch Grenzen einer KI auseinanderzusetzen – je smarter Algorithmen werden, desto smarter müssen wir werden.

Gerade unser Bauchgefühl oder auch Intuition genannt, ist jedoch nach wie vor die beste Grundlage, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Es handelt sich hierbei nicht um eine göttliche Eingabe oder eine Art sechsten Sinn, sondern es basiert auf langjähriger Erfahrung, einem umfassendem und sofortigen Situations­verständnis sowie einem daraus resultierenden unerklärlichen, aber dennoch starken Empfinden einer bestimmten Option den Vorzug geben zu wollen. Gesteht man dem Bauchgefühl einen relevanten Stellenwert im Entscheidungsprozess zu, kommt es in Unternehmen häufig zu einem Umdenken. Während man bei nächtlichen Vorstandssitzungen in einem namenhaften Unternehmen nach eigener Aussage in der Vergangen­heit oft versuchte, das Bauchgefühl eines einzelnen Mitglieds zu entkräfteten und seine Bedenken zu verharmlosen, um noch in der Nacht eine Einigung zu erzielen, ist man, nachdem man sich mit dem Thema beschäftigt hat, nun gewillt andere Wege zu gehen. Denn wenn eine erfahrene Führungskraft ein negatives Bauchgefühl hat, macht es keinen Sinn, sie nach den Gründen zu befragen, denn diese sind ja nicht im Bewusstsein.

Die Bereitschaft solche Bauchentscheidungen zu treffen, zeigt sich häufiger in Familien- oder eigengeführten Unternehmen als bei DAX-Unternehmen. Familienunternehmen denken meist langfristiger. Zudem ist das Gefühl persönlicher Verbundenheit bei Familienunternehmen oft tiefer als bei CEOs großer Firmen, die möglicherweise nur kurzfristig eine Position innehaben und dann weiterziehen. 

Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass umfangreiche Analyseprozesse künftig nicht mehr stattfinden oder Entscheidungen nur noch auf reiner Intuition beruhen sollten. Eine umfangreiche Recherche ist nach wie vor essenziell, um fundierte Entscheidungen zu treffen, jedoch sind Unternehmen gerade bei wegweisenden Entscheidungen gut beraten, neben der Sammlung und Auswertung aller verfügbaren Informationen, auch dem professionellen Bauchgefühl einen festen Platz im Entscheidungsfindungsprozess einzuräumen. Ohne Intuition gibt es keine Innovation.​​​
Befehle des Menübands überspringen
Zum Hauptinhalt wechseln
Deutschland Weltweit Search Menu