Herausfordernde Zeiten für Europa: Die aktuelle wirtschaftspolitische Lage

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veröffentlicht am 19. April 2023 / Lesedauer ca. 4 Minuten

 

Nicola Lohrey, geschäftsführende Partnerin, ANTWORTET




Wir befinden uns in herausfordernden Krisenzeiten in Europa. Wie schätzen Sie die aktuelle wirtschaftspolitische Lage ein?

Der geoökonomische Kontext ist sehr schwierig, das ist offensichtlich. Die Welt befindet sich seit einigen Jahren in einer Vielzahl von Krisen: Brexit, Gesundheits-, Klima- und Energiekrisen, Ukraine-Krieg, Inflation, Versorgungsschwierigkeiten...
 
Diese Situation ist eine der schlimmsten, die die Welt seit sehr langer Zeit erlebt hat, und der Krieg gegen die Ukraine ist ein großer Schock. Sie veranlasst die Staaten, ihre Prioritätensetzung neu zu definieren und ihre Inves­ti­tions­strategie manchmal dramatisch zu verändern. Zu nennen sind insbesondere die massiven Inves­ti­tionen in die Rüstungsindustrie oder auch der Inflation Reduction Act in den USA, der sehr weit­reich­ende Fol­gen für die Wettbewerbsfähigkeit Europas hat. Die Staaten müssen sich genauso schnell anpassen, wie es die Unter­nehmen tun.
 
Es gibt ein Paradoxon, das sich die Wirtschaftswissenschaftler nicht erklären können und das Anlass für Opti­mismus ist: Die Beschäftigungslage war selten so gut, und die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt spiegeln die Dynamik der Wirtschaft fast überall auf der Welt. Auch die Unternehmensgewinne sind weiterhin auf einem sehr hohen Niveau, was ebenfalls für Optimismus sorgt.
 
Alles wird also vom Ausgang des Krieges gegen die Ukraine abhängen, dessen Dauer derzeit nicht absehbar ist. Was auch immer geschieht, die Situation vor dem 24. Februar 2022 wird nie wiederkehren: Es wird ein Vor­her und ein Nachher geben.
 

Wie robust sind die Beziehungen innerhalb Europas und wie beeinflusst das die EU?

Das ist eine grundlegende Frage. Europa befindet sich an einem Wendepunkt seiner Geschichte. 
 
Die europäischen Staaten sind in diesem Krieg im Großen und Ganzen vereint, aber die treibende Kraft hinter dieser Vereinigung ist nicht so sehr die Europäische Union, sondern die NATO. 
 
Rödl & Partner wird sich am 25. Mai 2023 in Paris anlässlich seines dortigen 20-jährigen Firmenjubiläums mit diesem Thema befasst. In Anwesenheit von mehr als 150 führenden Persönlichkeiten aus der Wirtschaft und Politik und in Anwesenheit des deutschen Botschafters, Hans-Dieter Lucas, wird zur Situation „Europa zwischen den Risiken der Fragmentierung und den Chancen einer besseren Integration“ diskutiert. 
 
Die Qualität der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten ist entscheidend, um eine solche Fragmen­tierung zu vermeiden und eine bessere europäische Integration zu erreichen. Es darf natürlich nicht unter­schätzt werden, dass es tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten gibt, insbesondere im Bereich der Energiepolitik. 
 
Dennoch sind sich die europäischen Staaten bewusst, dass das, was sie verbindet, weitaus wichtiger ist als ihre Unterschiede. Jeder Staat ist sich bewusst, dass Europa, so unvollkommen es auch sein mag, ein gemein­sames Erbe hat und dass eine Zersplitterung Europas dramatische Folgen für jeden einzelnen von ihnen hätte.
 
So sehen wir Anzeichen für den erklärten Willen Europas, Maßnahmen zu ergreifen, um seine Märkte besser zu schützen, die Reindustrialisierung Europas durch eine Lockerung der Wettbewerbsregeln zu fördern und ein stärker integriertes Europa zu schaffen.
 
Dazu muss jedoch der deutsch-französische Motor wieder anspringen, was in den Hauptstädten der 27 euro­päischen Länder allgemein erwartet wird, da sie wissen, dass nur durch deutsch-französische Initiativen das Abenteuer der europäischen Integration fortgesetzt werden kann.

Was sind die größten Herausforderungen für die europäische Wirtschaft insbesondere für den deutschen Mittelstand?

Die großen Herausforderungen für die europäische Wirtschaft und insbesondere für die Unternehmen des Mittelstands betreffen vor allem die Energiekosten und die Energiewende, das Risiko eines Rückgangs der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und die Fähigkeit des Arbeitsmarktes, sich an die neuen Gegebenheiten nach Covid und den digitalen Übergang anzupassen. 
 
Was den Energiewandel betrifft, so beeinträchtigt die drastische Verteuerung der Energiekosten, insbesondere aufgrund des russischen Gasembargos, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrieunternehmen, die diese Steigerungen nicht in vollem Umfang weitergeben können. Die erste große Herausforderung besteht daher darin, die Energiewende durch verstärkte technologische Innovation zu beschleunigen. 
 
Die Gefahr eines Rückgangs der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit erfordert die Rückführung industrieller Kompetenzen in allen Bereichen, die für die Souveränität Europas von entscheidender Bedeutung sind, ins­be­sondere bei elektronischen Bauteilen, der Herstellung von Arzneimitteln oder auch strategischen Materialien. Die Bekämpfung der Inflation, die allmählich Früchte zu tragen scheint, ist ebenfalls eine wesentliche Voraus­setzung für die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch wenn das zu Zinserhöhungen führt, die die Investitionen der Unternehmen beeinträchtigen. 
 
Eine weitere große Herausforderung ist die Anpassung der Arbeitskräfte an die neuen wirtschaftlichen Reali­täten: Die Gesundheitskrise hat das Verhältnis der Arbeitnehmer zur Arbeit nachhaltig verändert. Ebenso be­schleunigt die digitale Transformation die Notwendigkeit für lebenslanges Lernen am Arbeitsplatz. Darüber hinaus ist die Begleitung älterer Menschen am Arbeitsplatz eine Herausforderung, mit der sich die Unter­nehmen konfrontiert sehen, wie die Debatte über die Rentenreform in Frankreich zeigt.

In Europa ist Frankreich Deutschlands wichtigster Handelspartner. Was beeinflusst diese Beziehung aktuell besonders?

Frankreich ist eine der wichtigsten Wirtschaftsgrößen und ein sehr bedeutender Handelspartner Deutschlands. Deutschland ist seinerseits mit Abstand der wichtigste Handelspartner Frankreichs (größter Kunde und größter Lieferant). 

Einige Zahlen, um die Tiefe dieser wirtschaftlichen Partnerschaft zu verdeutlichen: Über seinen Status als wichtigster Handelspartner hinaus ist Deutschland auch der größte Investor in Frankreich mit fast 300 Projekten und 8.000 neuen Arbeitsplätzen im Jahr 2021 (vor den USA), was mehr als 15 Prozent der ausländ­ischen Investitionen in Frankreich entspricht, und wir sehen weiterhin wachsende Chancen für französische Unternehmen in Sektoren wie Automobil, Luftfahrt oder Energie. Rund 2.500 deutsche Unternehmen sind in Frankreich tätig und beschäftigen 320.000 Menschen. 
 
In umgekehrter Richtung, als einer der größten Handelspartner auf europäischer Ebene, hat Frankreich 3.000 in Deutschland ansässige Unternehmen, die 325.000 Menschen auf deutschem Boden beschäftigen. Auf industrieller Ebene verfügt Frankreich über bemerkenswerte multinationale Unternehmen, die in zahlreichen Branchen (Luxusgüter, Luftfahrt, Rüstung, Nahrungsmittel, Automobilindustrie usw.) weltweit führend sind. 
 
Im Vergleich zu Deutschland gibt es in Frankreich jedoch weniger kleine und mittlere Unternehmen, was die Stärke der deutschen Volkswirtschaft ausmacht. Ebenso ist das Modell des Familienunternehmens weniger stark vertreten als in Deutschland, obwohl es in Frankreich sehr attraktive Familienunternehmen gibt. 
 
Was die deutsch-französischen Beziehungen derzeit am stärksten beeinflusst, sind die Überlegungen zu den Strategien, die anlässlich des Ukraine-Kriegs in den Bereichen Politik, Militär und Makroökonomie umgesetzt werden sollen. Für die Unternehmen steht viel auf dem Spiel, da die gegenseitige Abhängigkeit unserer Volks­wirtschaften zu einer beschleunigten Integration führen dürfte.

Welche Szenarien sehen Sie für Europa?

Es ist noch etwas früh, um das zu sagen, Sie können mich nach dem Ende des Ukraine-Kriegs erneut inter­viewen! 
 
Wir stehen an einem historischen Wendepunkt: Entweder gelingt es den europäischen Ländern nicht, sich darauf zu einigen, auf dem Weg zu einer echten europäischen Souveränität voranzuschreiten, und sie sind nicht in der Lage, ihre Meinungsverschiedenheiten über die Antwort auf die aktuelle Situation zu überwinden, dann besteht die reale Gefahr einer Zersplitterung Europas. 
 
Oder, und das ist wahrscheinlicher und natürlich mein Wunsch, die europäischen Staaten und die Kommission finden Wege und Mittel, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, und dann kann Europa in eine neue Ära der verstärkten Integration eintreten.
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