Dynamisches Mittel- und Osteuropa

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veröffentlicht am 9. Juni 2020 | Lesedauer ca. 5 Minuten
 

Renata Kabas-Komorniczak antwortet
 

  

Die Standort-Qualität in Mittel- und Osteuropa nimmt stetig zu. Welche Regionen sind besonders interessant?

Die Region Mittel- und Osteuropa ist nach wie vor ein attraktiver Investitionsmarkt. Estland, Tschechien, Polen, die Slowakei und Slowenien sind leistungsfähige Volkswirtschaften, die mit ihrem Entwicklungstempo zu den westeuropäischen Nachbarländern aufschließen. Ihre Attraktivität ist v.a. auf starke menschliche Ressourcen zurückzuführen: hochqualifizierte Arbeitnehmer, niedrige Lohnkosten, Zugang zu lokalen Sublieferanten, eine Lage im Herzen Europas sowie ein großer Verbrauchermarkt. Zweifelsohne nimmt Polen unter den fünf Ländern eine starke Position ein. Es unterstützt neue Investitionen, ist nahe am sehr wichtigen Partner Deutschland gelegen, verfügt über eine stabile Wirtschaft und Rohstoff-Ressourcen vor Ort.
 

Die Region wurde von den aktuellen Herausforderungen der Covid-19-Pandemie bisher nur milde getroffen. Das kann die Stellung der Volkswirtschaften im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern durchaus stärken.

 

Mit welchen steuerlichen und rechtlichen Änderungen muss sich der deutsche Mittelstand bei Investitionen in der Region befassen?

Die Staaten in Mittel- und Osteuropa ergreifen bewusst Maßnahmen zur Beschränkung des Steuerwett­bewerbs; auch eine Steuerumgehung soll durch verschärfte Vorschriften und zusätzliche formale Pflichten unterbunden werden. Das betrifft insbesondere EU-Länder.
 

Zu den Maßnahmen zählen u.a. die Einführung der Pflicht zur Offenlegung von Informationen über meldepflichtige Steuergestaltungen (Richtlinie 2018/822; weitere Informationen: DAC 6) sowie im Bereich Umsatzsteuer die Richtlinie 2018/1910 über das Paket der „Quick Fixes”. Letzteres stellt neue Anforderungen an die Dokumentierung von Warenlieferungen zwischen EU-Staaten, wovon v.a. sog. „Steuerlager” und „Reihengeschäfte” betroffen sind. Ein weiteres Instrument gegen steuerlichen Missbrauch ist die Richtlinie 2016/1164, ATAD 2, die die Nutzung von sog. „hybriden Instrumenten” zur Erlangung von Vorteilen bei Ertragsteuern verhindern soll.
 

Andererseits werden Steuervergünstigungen und -anreize eingeführt, die innovative Ideen sowie Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten fördern. Bspw. begünstigen neue rechtliche und steuerliche Instrumente eine verantwortungsvolle Geschäftsausübung; der Umweltschutz gewinnt ebenfalls an Bedeutung.
 

Zuletzt umgesetzte rechtliche und steuerliche Änderungen haben zum Ziel, die Unternehmer in der aktuellen Lage durch Covid-19 zu unterstützen: z.B. durch Verlängerung der Fristen für die Steuerzahlung und die Abgabe von Steuererklärungen sowie durch Maßnahmen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen. Es ist zu erwarten, dass sich die legislativen Maßnahmen der Länder in nächster Zeit auf dieses Ziel konzentrieren werden.

 

Werfen wir noch einen Blick nach Polen: Dort gab es 2020 ein ganzes Paket an Gesetzesnovellen. Die Einführung der Weißen Liste der Umsatzsteuerpflichtigen, die Ausdehnung der obligatorischen Anwendung des sog. „Split Payments”, die Änderungen im Bereich der Verrechnungspreise und der länderbezogenen Berichterstattung (Country-by-Country Reporting) sind nur einige davon.
 

Gleichzeitig werden auch gewisse Erleichterungen implementiert – z.B. macht es die Novellierung des Gesetzes über den Handel mit landwirtschaftlichen Grundstücken möglich, landwirtschaftliche Immobilien von mehr als 1 ha ohne Zustimmung des Direktors des Landeszentrums zur Unterstützung der Landwirtschaft („Krajowy Ośrodek Wsparcia Rolnictwa”) zu erwerben.
 

Welche Rolle spielen Erneuerbare Energien (EE)?

Analytiker schätzen, dass die elektrische Energie aus alten bzw. traditionellen Kraftwerken in den nächsten 4 Jahren erschöpft sein wird, weshalb in vielen Branchen EE eine immer größere Rolle spielen. In Mittel- und Osteuropa verzeichnet der Sektor Jahr für Jahr hohe Wachstumsraten. Das ist nicht nur auf die Verpflichtungen gegenüber der EU oder auf den ständig steigenden Bedarf an Energie bei gleichzeitigem Streben nach Kostensenkung für deren Erwerb zurückzuführen, sondern auch auf das gesellschaftliche Umweltbewusstsein und die Popularität eines ökologischen Lebensstils.
 

Der Einsatz von EE bietet viele Vorteile: Er schafft auf der unternehmerischen Seite neue Arbeitsplätze sowie Industriezweige, trägt zur Weiterentwicklung von Technologie bei und minimiert die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen (Erdöl/-gas). Letztlich führt das auf der ökologischen Seite zu geringeren Treibhausgasemission. Am dynamischsten entwickeln sich in Polen die Windenergie sowie die Nutzung von Biomasse für Energie­zwecke.
 

Der Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist die geänderte gesellschaftliche Wahrnehmung von EE. Ein Symbol dieses Phänomens ist das Programm für die Entwicklung von Photovoltaik-Mikroanlagen. Wir sprechen von Objekten, die die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen von der Ebene der Gewerbetätigkeit auf die der realen Ersparnisse einzelner Haushalte übertragen. Im Jahr 2019 ist die Anzahl der sog. „Prosumer” (Koffer­wort für Verbraucher, die zugleich Produzenten sind), die Strom in Mikroanlagen erzeugen, im Vergleich zum Jahr 2018 fast um das Dreifache gestiegen. Wir haben es also mit einer mutigen Wachstums­­tendenz zu tun. Dabei sind die Mikroanlagen nur ein Aspekt: Entwicklung der Elektromobilität, der Kraft-Wärme-Kopplung und der Energieeffizienz können genannt werden. Immer häufiger haben normale Bürger Anteil an der Revolution der EE. Wenn wir auf europäischer Ebene den sog. „Europäischen Grünen Deal“ und auf nationaler Ebene die Fördersysteme für EE-Anlagen addieren, so denke ich, können wir optimistisch in die Zukunft der EE in Mittel- und Osteuropa blicken.


Wie entwickelt sich Polen als Investitionsziel im internationalen Vergleich?

Polen nimmt international auf der Liste der attraktivsten Investitionsstandorte den 5. Platz ein. Davor liegen Wirtschaftsmächte wie China, Deutschland, Großbritannien und Indien. Ausländische Investoren stimmen darin überein, dass die wirtschaftliche Stabilität, die Entwicklung des Geschäftssektors und die Größe des Marktes Polen zu einem attraktiven Investitionsstandort machen. Ein Trumpf sind die Verfügbarkeit qualifi­zierter Arbeitskräfte (mit Hochschulbildung und Fremdsprachenkenntnissen) bei gleichzeitig niedrigen Vergütungen. Weitere Kriterien, die Polen attraktiv machen, sind das vereinfachte Verfahren zum Erwerb neuer Immobilien, die hohe Qualität der Investitionsgrundstücke sowie die Verfügbarkeit von Rohstoffen und notwendigen Produktionsmaterialien.
 

Auch die breit gefächerten Investitionsvergünstigungen ermuntern ausländische Investoren zum wirtschaft­lichen Engagement in Polen. Sowohl die Polnische Investitionszone (Polska Strefa Inwestycyjna), die die Sonderwirtschaftszonen abgelöst hat und den Investoren die Befreiung von der Körperschaftsteuer unabhängig vom Investitionsstandort ermöglicht, als auch die immer populärere Vergünstigung für eine Tätigkeit im Forschungs- und Entwicklungssektor oder die Befreiung neuer Investitionen von der Grundsteuer locken zweifelsohne ausländische Investoren nach Polen.
 

Wie viele Länder weltweit erwarten wir in diesem Jahr wegen der Covid 19-Epidemie erstmals seit Fall des Eisernen Vorhangs einen Wachstumsrückgang. Die wirtschaftliche Verlangsamung muss aber nicht den Verlust der Attraktivität als Investitionsort bedeuten. Eine wichtige Nachricht für Investoren – und in Folge auch für Exporteure – ist mit Sicherheit die von der Polnischen Nationalbank beschlossene Zinssenkung, die die Wertminderung des Polnischen Zloty und niedrigere Kreditkosten zur Folge hat. Die Programme der Regierung zur Anregung der Wirtschaft in der Rezession können Polens Attraktivität potenziell erhöhen. Unter Bezug­nahme auf den bekannten britischen Ökonomen hat die polnische Regierung einen „keynesianischen Entwicklungsimpuls” angekündigt.
 

Welche Branchen sind aktuell vielversprechend?

Am vielversprechendsten und stabilsten sind neben dem EE-Bereich die IT- und die Recycling-Branche. Erwähnenswert sind zudem der Möbel-Sektor, in dem Polen eine führende Position in Europa einnimmt, und der sich konsolidierende Sektor landwirtschaftlicher Lebensmittel.
 

Ein anderer interessanter Aspekt ist die mit Elektromobilität im weitesten Sinne verbundene Industrie, die als Priorität der jetzigen Regierung auf dem Weg zur modernen Reindustrialisierung des Landes dargestellt wird. Außerdem machen die Entwicklung von E-Commerce und die immer besser werdende Verkehrsinfrastruktur das verarbeitende Gewerbe attraktiv. 2019 entfielen die meisten neuen Projekte in Polen auf Elektromobilität, Motorisierung, Haushaltsgeräte und Verkehrswesen. Seit mehreren Jahren ist außerdem ein Übergang von der Produktions- zur Dienstleistungswirtschaft zu beobachten – Dienstleistungs- sowie Forschungs- und Entwick­lungsprojekte werden immer populärer und gewinnen an Bedeutung für ausländische Direktinvestitionen in Polen.

 
Zum Schluss noch eine Last-Minute-Nachricht: Microsoft wird 1 Mrd. US-Dollar in Polen investieren. Der Technologie-Riese wird ein Rechenzentrum bauen und geht eine Partnerschaft mit dem National Cloud Operator ein. Microsoft wird die Investition selbst vollständig decken. Die Mittel werden u.a. für die Aus­bildung von 150.000 Mitarbeitern und Studenten verwendet. „Polen könnte das technologische Herz Europas sein” kommentierte Mark Loughran, CEO von Microsoft Polen. Die Investition ist eine enorme Chance für die Beschleunigung der polnischen Wirtschaft nach der Coronavirus-Krise.

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