Arbeitspolitische Weichenstellungen im Koalitionsvertrag der 21. Legislaturperiode – Eine Analyse arbeitsrechtlich relevanter Regelungsbereiche

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​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​veröffentlicht am 10. April 2025 | Lesedauer ca. ​​​​​​​​​​​​5​​ Minuten 


Der Koalitionsvertrag der 21. Legislaturperiode zwischen CDU, CSU und SPD (nachfolgend: „Koalitionsvertrag“) dokumentiert eine strategische Neuausrichtung der Arbeitspolitik, die sowohl makroökonomische Herausforderungen wie den demografischen Wandel und die Digitalisierung als auch strukturelle Reformbedarfe im Arbeits- und Sozial­recht adressiert. Die Vereinbarungen der Koalitionspartner setzen an zentralen gesellschaftspolitischen Schnittstellen an, an denen wirtschaftliche Leistungs­fähigkeit, soziale Gerechtigkeit und technologischer Wandel in ein neues normatives Gleichgewicht gebracht werden sollen. Nachfolgend sollen ausgewählte normative Reformvorhaben des Koalitionsvertrages – namentlich zur Fachkräftesicherung, zum Arbeitsschutz, zur Arbeitszeitregulierung, zur tarifvertraglichen Ordnung sowie zur betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung – kurz dargestellt werden.





Fachkräftesicherung

Vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Fachkräftedefizits begreift der Koalitionsvertrag die nach­haltige Sicherung qualifizierter Arbeitskräfte als zentralen Imperativ wirtschaftlicher Resilienz. Die Koalition intendiert eine Weiterentwicklung der bestehenden Fachkräftestrategie durch die intersektionale Stärkung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, flankiert von gezielten Maßnahmen zur Legalisierung und Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen.
 
Ergänzend wird mit der Konzeption einer digitalen „Work-and-stay-Agentur“ ein institutioneller Hebel zur Effizienzsteigerung der Erwerbsmigration sowie zur vereinheitlichten und beschleunigten Anerkennung ausländischer Qualifikationen geschaffen. Diese Verfahren sollen normativ auf eine maximale Bearbeitungs­dauer von acht Wochen beschränkt werden.
 

Arbeitsschutz und Arbeitszeiter​fassung

Die koalitionsvertraglichen Aussagen zum Arbeitsschutz akzentuieren sowohl die psychosozialen Belastungen in der Arbeitswelt als auch die Notwendigkeit branchenspezifischer Schutzstandards. Exemplarisch ist die beabsichtigte Ausweitung der Nachunternehmerhaftung auf die Paketlogistik als Ausdruck einer gestärkten Sekundärhaftung im Interesse der Sozialversicherungssysteme. Darüber hinaus wird betont, dass die Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften bei neuen Beschäftigungsformen, etwa in Plattformökonomien, verstärkt überprüft und durchsetzbar gestaltet werden muss. Insbesondere mobile und hybride Arbeitsformen sollen arbeitswissenschaftlich begleitet und unter präventiven Gesichtspunkten neu reguliert werden. Der präventive Gesundheitsschutz erfährt damit eine strategische Aufwertung und soll vermehrt auch psychische Belastungen systematisch einbeziehen.
 
Im Bereich der Arbeitszeitregulierung wird ein Paradigmenwechsel hin zu einer wöchentlichen Betrachtungs­weise der Höchstarbeitszeit angestrebt. Dadurch soll eine höhere Flexibilität und Eigenverantwortung für die Arbeitszeitgestaltung ermöglicht werden, etwa durch die Einführung experimenteller Modelle wie der Vier-Tage-Woche oder saisonal angepasster Arbeitszeitkorridore. Auch sollen tarifliche Öffnungsklauseln zur flexiblen Ausgestaltung betrieblicher Arbeitszeitmodelle erweitert werden. Die Einführung einer verpflichtenden elektronischen Zeiterfassung – bei gleichzeitiger Wahrung der Vertrauensarbeitszeit im Einklang mit unions­rechtlichen Vorgaben – stellt eine richtungsweisende Antwort auf die EuGH-Rechtsprechung zur objektiven Arbeitszeiterfassung dar. In diesem Zusammenhang wird betont, dass technische Lösungen praxistauglich, datenschutzkonform und betriebsverfassungsrechtlich integrierbar sein müssen, um Akzeptanz und Wirksamkeit gleichermaßen zu gewährleisten.
 

Tarifbindung | Bundestariftreuegesetz

Zur Stabilisierung und Revitalisierung der tariflichen Ordnung des Arbeitsmarkts strebt die Koalition eine systematische Re-Regulierung durch das Bundestariftreuegesetz an. Dieses soll (i) die verpflichtende Anwendung einschlägiger Tarifverträge im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe ab einem Schwellenwert von 50.000 Euro (bzw. 100.000 Euro für Start-ups) normativ absichern, (ii) die Erosion der Tarifbindung, insbesondere im unteren Lohnsegment aufhalten sowie (iii) dem Trend wachsender tariflicher Fragmentierung entgegenwirken. Zugleich soll das Bundestariftreuegesetz als steuerungspolitisches Instrument zur Qualitäts­sicherung öffentlicher Aufträge verstanden, da tariflich vergütete Beschäftigungsverhältnisse als Indikator für faire Arbeitsbedingungen gelten. Damit verbunden ist die Hoffnung, eine Vorbildfunktion des öffentlichen Sektors zu etablieren, die auf den privaten Markt abstrahlt und tarifpolitische Dynamiken auch außerhalb der unmittelbaren Geltung staatlicher Normsetzung befördert.
 
Ergänzend soll eine engere Verzahnung zwischen Tarifvertragsparteien und öffentlichen Auftraggebern etabliert werden, etwa durch die Einführung von Prüf- und Nachweispflichten sowie durch Sanktionierungsmecha­nismen bei Verstößen. Die Etablierung verbindlicher Kontrollstrukturen soll insbesondere verhindern, dass formale Tariftreueerklärungen in der Praxis unterlaufen werden. Überdies ist eine regelmäßige Evaluierung der tariflichen Reichweite und der Kontrollpraxis vorgesehen, um Wirkungsdefizite frühzeitig zu identifizieren und ggf. nachzusteuern. Perspektivisch sollen die gewonnenen Erkenntnisse auch in die Ausgestaltung sektorspezifischer Mindeststandards einfließen, um branchentypischen Herausforderungen differenziert begegnen zu können.
 
Ergänzend wird die steuerliche Begünstigung der Gewerkschaftsmitgliedschaft als Instrument zur Stärkung kollektiver Interessenvertretung vorgeschlagen. Hierdurch soll nicht nur die Attraktivität gewerkschaftlicher Mitgliedschaft erhöht, sondern auch die gesellschaftliche Bedeutung kollektiver Strukturen in einer zunehmend individualisierten Arbeitswelt betont werden. Die Maßnahme steht damit im Kontext einer breiter angelegten Strategie zur Reaktivierung tariflicher und mitbestimmter Aushandlungsmechanismen unter digitalen Vorzeichen.
 

Mindestlohn

Die Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohns soll künftig einer doppelten Referenzstruktur folgen: einerseits orientiert an der allgemeinen Tariflohnentwicklung, andererseits unter Berücksichtigung eines Zielwerts von 60 Prozent des Bruttomedianlohns. Das erklärte Ziel ist ein Mindestlohn von 15 Euro bis zum Jahr 2026. Diese Neuausrichtung wird nicht nur unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit motiviert, sondern zugleich als wirtschafts- und beschäftigungspolitisch sinnvoll begründet. Ein armutsfester Mindestlohn soll die Binnenkaufkraft stärken, atypische Beschäftigung reduzieren und zur fiskalischen Entlastung der Grundsiche­rungssysteme beitragen. Zudem kann die Festlegung eines sozial akzeptablen Mindestlohns auch einen Beitrag zur Angleichung regionaler Lebensverhältnisse leisten, indem er Lohnwettbewerb auf niedrigem Niveau entgegenwirkt und insbesondere strukturschwache Regionen stützt. Die Einbindung der Mindestlohn­kommission bleibt weiterhin gewährleistet, soll aber durch klare politische Leitplanken ergänzt werden, die eine verstetigte Aufwärtsentwicklung sicherstellen.
 

Mitbestimmung und Digitalisierung

Die betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung soll laut Koalitionsvertrag inhaltlich wie technisch weiterentwickelt werden. Vor dem Hintergrund digitaler Arbeitsorganisationen plant die Koalition die gesetzliche Zulassung von Online-Formaten für Betriebsratssitzungen, -versammlungen und -wahlen. Dies betrifft nicht nur die rechtliche Gleichstellung solcher Formate mit Präsenzveranstaltungen, sondern auch die Sicherstellung angemessener technischer Rahmenbedingungen, einschließlich datenschutzrechtlicher Absicherung und barrierefreier Zugangsmöglichkeiten. Ziel ist es, Mitbestimmung in hybriden und dezentralen Arbeitsmodellen praktikabel und rechtssicher zu gestalten. Zugleich soll auch das Initiativrecht von Betriebsräten in Bezug auf digitale Beteiligungsformate gestärkt werden, etwa durch gesetzlich abgesicherte Plattformrechte und standardisierte Tools zur Beteiligung bei virtuellen Abstimmungen.
 
Die Gewährleistung digitaler Zugangsrechte für Gewerkschaften auf Augenhöhe mit analogen Beteiligungs­rechten stellt ein weiteres Element normativer Gleichstellung dar. Durch die rechtliche Verankerung solcher digitaler Zugangsrechte soll insbesondere dem strukturellen Wandel hin zu Remote-Arbeitsplätzen und virtuellen Teams Rechnung getragen werden. Damit verbunden ist eine konzeptionelle Erweiterung der klassischen Zugangsrechte, wie sie das Betriebsverfassungsgesetz bislang kennt, um diese zukunftsfest auszugestalten. In diesem Kontext wird auch die Frage diskutiert, ob digitale Informationsve​ranstaltungen in Betrieben als gleichwertige Formate zur Mitgliederwerbung und Rechtsberatung gewerkschaftlich anerkannt werden können, einschließlich entsprechender Schutzrechte vor digitaler Behinderung oder Einschränkung durch Arbeitgeber.
 
Die Einführung von Mitbestimmungsrechten beim betrieblichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz sowie flankierende Qualifizierungs- und Datenschutzanforderungen lassen eine Fortentwicklung des klassischen Mitbestimmungsbegriffs in Richtung eines digitalen Strukturmodells erkennen. Dies betrifft insbesondere Fragen der algorithmischen Steuerung von Arbeitsprozessen, automatisierter Leistungsbewertung sowie KI-gestützter Personalentscheidungen, deren Regelung einer engen betriebsverfassungsrechtlichen Absicherung bedarf. Auch soll geprüft werden, wie bestehende Mitbestimmungsrechte in Betriebsvereinbarungen konkretisiert und durch spezialisierte Beratungs- und Schulungsangebote flankiert werden können. Perspek​­tivisch könnte dies in die Etablierung neuer Mitbestimmungstatbestände für algorithmische Entscheidungs­prozesse münden, wobei insbesondere Transparenz, Revisionsrechte und Kontrollmöglichkeiten durch Betriebsräte gestärkt werden müssten.
 

Steuerliche Begünstigung von Mehrarbeit und Aktivrente

Zur Steigerung der Arbeitszeitbereitschaft in Zeiten strukturellen Fachkräftemangels sieht der Koalitionsvertrag gezielte steuerliche Anreize vor. So sollen Zuschläge für Mehrarbeit ab der 34. bzw. 40. Wochenstunde steuerfrei gestellt werden. Darüber hinaus können Ar-beitgeber Prämien für ausgeweitete Arbeitszeiten steuerbegünstigt gewähren, um Be-schäftigte zu zusätzlichem Arbeitseinsatz zu motivieren. Flankierend wird auch die Weiter-arbeit über das reguläre Renteneintrittsalter hinaus attraktiver ausgestaltet: Einkommen bis zu 2.000 Euro monatlich bleiben bei einer sogenannten Aktivrente steuerfrei. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, vorhandene Arbeitskapazitäten besser auszuschöpfen und die Erwerbsbeteiligung erfahrener Fachkräfte zu verlängern. Die damit einhergehende Entlastung des Arbeitsmarktes soll durch eine verstärkte Einbindung älterer Beschäftigter sowie durch Anreize zur Arbeitszeitaufstockung insbesondere in Teilzeitsektoren erreicht werden.

Zusätzlich wird beabsichtigt, das Zusammenspiel von Lohnsteuer- und Sozialversiche-rungsrecht auf ihre jeweiligen arbeitsmarktpolitischen Effekte zu überprüfen. Die steuerli-che Begünstigung von Mehrarbeits­​zuschlägen könne – so die Koalition – als gezielte Ant-wort auf Fachkräftelücken in Engpassberufen fungieren, insbesondere in Branchen mit saisonalen oder strukturellen Mehrbelastungen. Es bleibt dabei zu beobachten, wie sich diese Maßnahmen auf Tarifverhandlungen und betriebliche Arbeitszeitmodelle auswirken werden.

Stärkung der betrieblichen Altersversorgung

Ein weiterer arbeitsrechtlich relevanter Schwerpunkt liegt im Bereich der betrieblichen Altersversorgung. Der Koalitionsvertrag bekräftigt das Ziel, die Verbreitung und Attraktivi-tät betrieblicher Versorgungsmodelle zu erhöhen. Vorgesehen ist insbesondere die Prü-fung von Anreizsystemen für kleine und mittlere Unternehmen, um eine breitere betriebli-che Altersvorsorge auch jenseits tariflich regulierter Branchen zu ermöglichen. Parallel soll die Digitalisierung der Verwaltung von Betriebsrenten vorangetrieben werden, etwa durch nutzerfreundliche Informationsplattformen für Beschäftigte.
 
Auch die steuerrechtliche Behandlung von bAV-Zuwendungen soll einer Effizienzprüfung unterzogen werden, um bestehende Hemmnisse abzubauen. Überdies soll analysiert wer-den, ob eine Ausweitung der verpflichtenden Arbeitgeberzuschüsse zur Entgeltumwand-lung möglich und sinnvoll wäre, um die Beteiligung weiter zu erhöhen. Perspektivisch wird zudem die Rolle von Branchenlösungen, tariflichen Kollektivmodellen und staatlich unter-stützten Angeboten (wie der Zielrente) im Hinblick auf ihre arbeitsrechtliche Integration und rechtssichere Umsetzung neu bewertet.
 

Fazit und Ausblick

Das arbeitsrechtliche Reformpaket des Koalitionsvertrags lässt sich als doppeltes Signal verstehen: Einerseits enthält es durchaus begrüßenswerte Impulse zur Modernisierung des Ordnungsrahmens, etwa hinsichtlich der Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen oder der digitalen Transformation betrieblicher Prozesse. Andererseits offenbart die konkrete Ausgestaltung vieler Maßnahmen eine bemerkenswerte Regulierungsintensität, die für Unternehmen erhebliche operative und strategische Herausforderungen mit sich bringt.
 
Beispielhaft seien die erweiterten Pflichten zur Arbeitszeiterfassung, die Ausweitung der Nachunternehmer­haftung sowie das vorgesehene Bundestariftreuegesetz genannt. Diese Maßnahmen mögen aus sozialpoli­tischer Perspektive schlüssig erscheinen, bürden den Arbeitgebern jedoch nicht unerhebliche zusätzliche Nachweis- und Dokumentationspflichten auf, verschärfen Haftungsrisiken und beschneiden die unternehme­rische Entscheidungsfreiheit spürbar. In einem Umfeld zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit, globaler Wettbewerbsdynamik und strukturellen Arbeitskräftemangels wirken solche Vorgaben kontraproduktiv.
 
Auch bei der Digitalisierung betrieblicher Mitbestimmung zeigen sich ambivalente Effekte: Die gesetzliche Flankierung virtueller Beteiligungsformate ist längst überfällig und in vielen Unternehmen bereits gelebte Praxis. Ob sich dadurch jedoch tatsächliche Effizienz- oder Qualitätsgewinne in der Mitbestimmung erzielen lassen, ist offen – insbesondere, wenn dies mit neuen technischen Anforderungen, datenschutzrechtlichen Unsicherheiten und zusätzlichen Beteiligungspflichten einhergeht.
 
Der Koalitionsvertrag verfolgt damit einen normativ ambitionierten Regulierungsansatz, der auf eine umfassende Rahmensetzung für die Arbeitswelt der Zukunft zielt, m.E. aber dabei häufig die praktischen Umsetzungsrealitäten in Unternehmen aus dem Blick verliert.
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