Mehr Schein als Sein? – Der (vermeintlich) kranke Arbeit­nehmer und die Online-AU

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​​veröffentlicht am 21. November 2024 | Lesedauer ca. 3 Minuten

 

Ein Mausklick und der Arbeitnehmer ist krankgeschrieben: Die Möglichkeiten, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne einen „lästigen Gang zum Arzt“ zu erhalten, erfreuen sich ständig wachsender Beliebtheit. Dies gilt nicht nur für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit mittels telefonischer Anamnese („Tele-AU“), sondern auch für die Online-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen („Online-AU“). Diese Entwicklung ist im Grundsatz selbstredend nachvollziehbar. Immerhin haben arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer („Arbeitnehmer“) hierdurch theoretisch die Möglichkeit, ihre Arbeitsunfähigkeit mit einem für sie minimalen Aufwand feststellen zu lassen​. 

 

   
​Insbesondere im Kontext der Online-AU, ist jedoch auch das Missbrauchspotenzial enorm. Das ist zugleich der Grund, warum diverse Ärztekammern regelmäßig vor unseriösen Anbietern warnen, die eine Online-AU ohne tatsächlich erfolgende ärztliche Anamnese ausstellen. Denn tatsächlich, auch wenn mit Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung („eAU“) die Missbrauchsmöglichkeiten durch Vorlage von falschen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der Theorie zwar eingeschränkt sind, zeigt sich in der Praxis, dass Online-AUs weiterhin durchaus gezielt zur Umgehung arbeitsrechtlicher Pflichten eingesetzt werden. 
     
Ausgangslage der Beurteilung ist zunächst, dass Arbeitgeber bei Vorlage einer jeden Arbeitsunfähigkeits​­bescheinigung grundsätzlich davon ausgehen müssen, dass der Arbeitnehmer auch tatsächlich krankheits­bedingt an der Erbringung seiner Arbeitsleistung verhindert ist. Grund hierfür ist, dass die ordnungsgemäß ausgestellte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen​ Beweiswert hat.  Das ist mittlerweile nichts Neues. 
   
Was gilt aber, wenn die Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde oder ohne Arztgespräch durch das Ausfüllen von Formularen entgeltlich erworben wird? 
  

Die Online-AU 

Um diese Frage zu beantworten, bedarf es zunächst einer kurzen Erläuterung, was unter Online-AU überhaupt zu verstehen ist. Denn Gegenstand der konkreten Warnungen der Ärztekammern ist nicht das für Arbeitgeber im Jahr 2023 verpflichtend eingeführte Verfahren zur eAU​
  
Unter der umgangssprachlichen Bezeichnung als Online-AU verstehen sich dem Grunde nach nämlich Beschei­nigungen, die Arbeitnehmer im Internet ohne jedwede ärztliche Anamnese entgeltlich erwerben können. Fragwürdige, aber zugleich gefragte Anbieter werben mit Cannabis- oder Arzneimittel-Rezepten bis hin zu Krankmeldungen „in wenigen Minuten“. Der Erwerb der Online-AU ist dabei erdenklich einfach, wie das folgende Beispiel zeigt: Der vermeintlich kranke Arbeitnehmer wählt zunächst in einer Eingabemaske der Anbieterwebsite aus, ob er eine Online-AU mit oder ohne ärztlichem Gespräch möchte. In der Regel ist die Online-AU ohne Gespräch etwas teurer. Anschließend wählt der (vermeintlich) kranke Arbeitnehmer eigen­ständig die seinerseits vermutete Diagnose für seine Arbeitsunfähigkeit aus. Hierbei sind diverse Erkran­kungen, von „Erkältung / Grippe“ bis hin zu „Depression / Burnout“ frei wählbar. Nachdem der Verwender einige wenige weitere Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet hat, muss er nur noch das Anfangs- und Enddatum seiner Arbeitsunfähigkeit selbst auswählen. Und schon ist der Arbeitnehmer per Mausklick für eine Woche „krankgeschrieben“. Optisch sieht die Online-AU in der Regel aus, wie ein „Gelber-Schein“, der eingescannt wurde. Die Datei selbst wird den beantragenden Arbeitnehmern dann per PDF übermittelt. 
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Diese optische Gestaltung ist auch ein Kernunterschied zur eAU, die vom Arbeitgeber über ein standardisiertes Verfahren maschinell lesbar übermittelt wird. Hier entfällt der „Gelbe Schein“ in Papierform.  
    

Die Online-AU im Lichte der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie

Dieses Verfahren vorangestellt, stellt sich nun erneut die Ausgangsfrage: Wie sieht es denn eigentlich mit dem Beweiswert einer solchen Online-AU aus, die per Mausklick durch das Ausfüllen eines Formulars ohne ärztliche Anamnese bestellt wird? 
  
Die Antwort findet sich dem Grunde nach bereits in der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie („AU-Richtlinie). Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit darf nach der AU-Richtlinie nur auf Grund einer unmittelbar oder mittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen. Die mittelbar persönliche Untersuchung kann im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese erfolgen. Sie unterliegt im Hinblick auf die Dauer der attestierten Arbeitsunfähigkeit aber klarer Grenzen. Ist der Versicherte der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt aufgrund früherer Behandlungen nicht unmittelbar persönlich bekannt, soll die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit über einen Zeitraum von bis zu drei Kalendertagen nicht hinausgehen. 
  
Diese Anforderungen erfüllt die Online-AU ganz eindeutig nicht. In der geschilderten Konstellation findet nämlich tatsächlich gar kein Kontakt mit einem Arzt statt. Weder durch Videochat noch telefonische Anamnese. Auch ist die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, die der Verwender selbst aussuchen kann, zeitlich nicht begrenzt.  Von einer ordnungsgemäßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die auf Grundlage einer Behandlung oder zumindest Konsultation eines Arztes ergangen ist, kann damit im Lichte der AU-Richtlinie nicht die Rede sein. Damit kann einer solchen Online-AU in der Regel auch kein Beweiswert zugesprochen werden. 
  

Arbeitsrechtliche Problematik und Konsequenzen

Seit Einführung der „eAU“ werden die Bescheinigungen grundsätzlich nicht mehr in Papierform vorgelegt, so dass die Missbrauchsgefahr durch die Vorlage gekaufter Online-AUs tendenziell geringer werden sollte. Immerhin ist die eAU grundsätzlich abrufbar. Die Praxis zeigt jedoch, dass der Abruf der AU-Daten oftmals mit technischen Schwierigkeiten verbunden oder gar nicht möglich ist, so dass Arbeitnehmer die Arbeitsun­fähigkeits­bescheinigung weiterhin in Papierform vorlegen. Ein Schlupfloch für jene, die ihre vorgetäuschte Erkrankung durch Vorlage einer gekauften Online-AU zu belegen versuchen. Gleiches gilt für Online-AU, die vermeintlich durch Privatärzte ausgestellt wurden und somit ohnehin Papierform vorzulegen wären. 
    
Ist der Arbeitnehmer erst einmal krankgeschrieben, so führt dies zu Entgeltfortzahlungen, die grundsätzlich nicht geschuldet sind, wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht ordnungsgemäß festgestellt wird. Der oben geschilderte Fall ist nur eine mögliche Konstellation. Zur Vermeidung derartiger Fälle stehen Arbeitgeber unterschiedliche, präventive Maßnahmen zur Verfügung. Kommt es gleichwohl zur Vorlage einer Online-AU, reichen die arbeitsrechtliche Reaktionsmöglichkeiten je nach Einzelfall von der Einbeziehung des medizi­ni­schen Dienstes über die Nichtzahlung der Entgeltfortzahlung bis hin zur (außerordentlichen) Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Im Ergebnis gilt also für die hier vorgestellte Online-AU: Mehr Schein als Sein! 
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