Marktabgrenzung im Kartellrecht: Neue Hinweise der EU-Kommission

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​​​​​​​​​​​​​​​​veröffentlicht am 14. Mai 2024 | Lesedauer ca. 4 Minuten


Die EU-Kommission hat ihre Hinweise zur kartellrechtlichen Marktabgrenzung um­fangreich aktualisiert und erweitert. Das ist für Unternehmen und ihre Berater von erheblicher Bedeutung, weil es im Kartellrecht für viele Fragestellungen auf eine korrekte Marktabgrenzung ankommt, und zwar vor allem immer dann, wenn ermittelt werden muss, ob Unternehmen Wettbewerber sind oder welche Marktanteile ein Unternehmen hat. Eine falsche Marktabgrenzung kann zu einem falschen kartell­rechtlichen Prüfungsergebnis führen und somit kartellrechtswidriges Verhalten zur Folge haben​.


Die überarbeiteten Hinweise der EU-Kommission finden sich in der „Bekanntmachung der Kommission über die Abgrenzung des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Union“ (C/2024/1645). Deren Vor­gängerversion war mehr als 25 Jahre in Kraft, weshalb die Überarbeitung von Kartellrechtlern mit Spannung erwartet wurde. Die Neufassung ist deutlich umfangreicher und spiegelt die Entwicklungen der letzten Jahr­zehnte wider​.



Welche Bedeutung hat die Marktabgrenzung?​

Bei der Marktabgrenzung wird ermittelt, bei welchen Produkten bzw. Dienstleistungen („sachlich“) und in welchem Gebiet („räumlich“) Unternehmen zueinander in Wettbewerb stehen. Auf dieser Basis kann dann auch bestimmt werden, welche Marktanteile Unternehmen haben. 
 
Auf die Marktabgrenzung und die Marktanteile von Unternehmen kommt es bei vielen kartellrechtlichen Frage­stellungen im Unternehmensalltag entscheidend an, unter anderem bei der Kartellrechts-Compliance und der Bestimmung der Wettbewerber, bei der Fusionskontrolle, bei der Prüfung einer marktbeherrschenden Stellung und nicht zuletzt häufig auch bei verschiedenen Vereinbarungen zwischen Unternehmen (z.B. Vertriebsverträge, Forschungs- und Entwicklungskooperationen, Lizenzverträge) sowie bei Einkaufs- und anderen Wettbewerberkooperationen.
 
Für Unternehmen und ihre Berater ist es also wichtig, die Märkte auf denen ein Unternehmen tätig ist, richtig abzugrenzen und die eigenen Marktanteile korrekt zu ermitteln​.


Was sind die wesentlichen Inhalte der Bekanntmachung?

In der Bekanntmachung erläutert die EU-Kommission, wie sie vorgeht, wenn sie bei Fusionskontrollen und in Kartellverfahren die relevanten Märkte bestimmt. Im Vergleich zur Vorgängerversion sind die Hinweise nicht nur aktualisiert, sondern auch deutlich erweitert worden. Zwei grundlegende Aspekte sind dabei hervorzuheben: Zum einen skizziert die Neufassung die rechtlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte bei der Marktab­grenzung. Die Darstellung enthält eine Vielzahl an praxisrelevanten Verweisen auf Entscheidungen der euro­päischen Gerichte und der EU-Kommission. Zum anderen spiegelt die aktualisierte Version wider, dass sich das Marktumfeld der Unternehmen verändert hat. Diesbezüglich gibt sie wertvolle Hinweise zur schwierigen Marktabgrenzung im Zusammenhang mit kartellrechtlich neuen Themenfeldern, wie die zunehmende Digita­lisierung, Nachhaltigkeitsthemen und neue Formen des Angebots von Waren und Dienstleistungen. 
 
Die Methodik der Marktabgrenzung bleibt in der Neufassung im Wesentlichen unverändert. Dementsprechend beschreibt die EU-Kommission in der Neufassung noch einmal die anerkannten allgemeinen Grundsätze der Marktabgrenzung in sachlicher und räumlicher Hinsicht. 
 
Für die sachliche Marktabgrenzung stellt sie dabei weiterhin hauptsächlich auf die Substituierbarkeit der Produkte ab. Es wird dabei gefragt, auf welche alternativen Produkte Kunden im Fall einer „geringen, aber signifikanten und anhaltenden Preiserhöhung“ ausweichen würden. Solche Produkte werden dann demselben Markt zugeordnet wie das untersuchte Produkt. Die EU-Kommission präzisiert dabei nicht nur die verschie­denen quantitativen Techniken, die bei der Marktabgrenzung herangezogen werden. Sie erkennt auch explizit an, dass nichtpreisliche Parameter wie Innovation, Qualität, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit für die Marktabgrenzung Bedeutung haben (können). So testet die EU-Kommission bisweilen auch, ob Kunden bei einer „geringen, aber signifikanten und anhaltenden Qualitätsminderung“ auf ein anderes Produkt ausweichen würden. Hilfreich ist außerdem, dass die Bekanntmachung spezifiziert, anhand welcher alternativen Parameter Marktanteile berechnet werden können, z.B. Verkäufe, Kapazitäten oder Nutzungsdaten, wie der Zahl der (aktiven) Nutzer oder der Website-Besuche.
 
Hinsichtlich der räumlichen Marktabgrenzung prüft die EU-Kommission, ob die Wettbewerbsbedingungen innerhalb eines untersuchten Gebiets hinreichend homogen sind. Dabei zieht die EU-Kommission verschiedene Merkmale heran. So sind z.B. die im untersuchten Gebiet tätigen Anbieter ein Indikator. Innerhalb eines räum­lichen Marktes gibt es regelmäßig überall dieselben Anbieter mit vergleichbaren Marktanteilen. Auch die Preise oder das Kaufverhalten der Kunden sind üblicherweise homogen. Dieses Vorgehen wurde im Grundsatz bereits in der vorherigen Bekanntmachung aus dem Jahr 1997 beschrieben. Die aktuelle Fassung enthält allerdings deutlich detailliertere Hinweise.
 
Schließlich geht die EU-Kommission vertieft auf besondere Konstellationen ein, von denen einige erst in den letzten Jahren besonders relevant wurden und in denen die Marktabgrenzung in der Praxis Schwierigkeiten aufwarf. Dazu gehört etwa die Marktabgrenzung bei mehrseitigen Plattformen oder digitalen Ökosystemen. Auch der Marktabgrenzung bei Innovationswettbewerb und signifikanter Forschung und Entwicklung (F&E) wird ein eigener Abschnitt gewidmet.


Welche Folgen hat die Bekanntmachung für die Praxis?

Unmittelbarer Handlungsbedarf aufgrund der Neufassung ergibt sich vor allem für Unternehmen,

  • die digitale Geschäftsmodelle haben bzw. auf Digital- und Plattformmärkten aktiv sind,
  • die eine starke F&E-Tätigkeit aufweisen bzw. auf innovationsgetriebenen Märkten tätig sind oder
  • die Geschäftsaktivitäten haben, bei denen die Gegenleistung keine klassische Geldzahlung ist.
 

Zumindest in diesen Konstellationen macht es Sinn, etwaige bestehende Marktabgrenzungen auf Basis der neuen, deutlich fundierteren Hinweise der EU-Kommission zu überprüfen. 
  
Für andere Unternehmen, die auf eher „klassischen“ Märkten aktiv sind und die die Märkte, auf denen sie tätig sind, bereits einmal in kartellrechtlich konformer Weise abgegrenzt haben, ergibt sich allein aufgrund der Neufassung kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Die aus niedrigen Marktanteilen folgenden Privilegien (z.B. Vertikal-GVO) oder die aus höheren Marktanteilen folgenden kartellrechtlichen Pflichten (z.B. Verbot des Missbrauchs von Marktmacht) bleiben bestehen. Dennoch kann es sich auch für solche Unternehmen lohnen, die Neufassung einmal zum Anlass zu nehmen, frühere kartellrechtliche Prüfungen der Geschäftsaktivitäten auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Dies gilt schon deshalb, weil sich die für die Bewertung maßgeblichen Marktverhältnisse seit der letzten Prüfung geändert haben können.
 
Auch wenn die Bekanntmachung nicht bindend für die europäischen Gerichte und nationalen Kartellbehörden ist, wird sie in Zukunft eine wichtige Arbeitshilfe im Kartellrecht sein und auch aufgrund ihres höheren Detail­lierungsgrades eine größere Bedeutung als die Vorgängerversion erlangen.
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