Rückerstattung vorläufig erstatteter außerordentlicher Aufwendungen in der Pflege anlässlich Corona – Konkrete Prüfungspflicht im Einzelfall durch Krankenkassen!

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veröffentlicht am 08. Januar 2024


So langsam verblasst die Erinnerung an die Corona-Pandemie – und damit an die Zeit, in der wirtschaftlich schwierigste Situationen und Herausforderungen zugelassener Pflegeeinrichtungen im Rahmen ihrer Leistungserbringung einschließlich Leistungen für Unterkunft und Verpflegung vorherrschten. Die Zeiten waren geprägt von staatlichen Unterstützungsleistungen wie Kurzarbeitergeld oder Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) und Zahlungen für Mehraufwendungen und Mindereinnahmen nach § 150 Abs. 2 und 3 SGB XI, dem sog. Pflegerettungsschirm. Das Problem: Nun häufen sich die Fälle in denen Pflegekassen, trotz ursprünglicher Bewilligung der Anträge auf Erstattung der infolge des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 angefallener außerordentlicher Aufwendungen sowie Mindereinnahmen nun sukzessive Beträge zurückfordern. Zu Recht, sagen die einen, denn die Bescheide ergingen nur vorläufig – zu Unrecht, sagen wir! Jedenfalls dann nicht, wenn die Rückforderung ohne dezidierte Einzelfallprüfung erfolgt. Das Sozialgericht Nürnberg sieht das in seiner aktuellen Entscheidung vom 11.12.2023 (Az.: S 19 P 160/23) ebenso.


Was war passiert?

Die Beteiligten des Rechtsstreits, eine Pflegekasse (Beklagte) und ein Pflegeheimbetreiber (Kläger), streiten über die Verpflichtung des Klägers zur (teilweisen) Rückerstattung vorläufig erstatteter, infolge des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 angefallener außerordentlicher Mehraufwendungen, die der Kläger für den Zeitraum März 2020 bis Dezember 2020 erhalten hatte. Die Beklagte bewilligte zunächst EUR 385.319,10 mit dem Hinweis auf den Vorbehalt der Nachprüfung. Sobald später das Nachweisverfahren abgeschlossen ist, würde der Erstattungsbetrag abschließend berechnet (gemäß § 150 Abs. 2 SGB XI). Sollte sich eine Überzahlung ergeben, würde der Kläger den zu viel erhaltenen Betrag zurückerstatten müssen (gemäß § 150 Abs. 3 SGB XI i.V.m. Ziff. 5. (3) der Kostenerstattungs-Festlegungen des GKV-Spitzenverbands). Bei einer Unterzahlung würde die Beklagte den zu wenig gezahlten Betrag nachzahlen. Nachdem der Kläger später die von ihm geltend gemachten SARS-CoV-2 bedingten Mehraufwendungen sowie Mindereinnahmen entsprechend nachgewiesen hatte, forderte die Beklagte mit Bescheid vom 07.03.2022 auf Grund der Prüfungsfeststellungen EUR 108.176,41 zurück. Der Bescheid sei endgültig und hebe die Vorläufigkeit der bisherigen Bescheide – auch der Korrekturbescheide – für 2020 auf. Der gegen den Bescheid erhobene Widerspruch wurde überwiegend – bis auf einen Betrag von EUR 3.053,60 – zurückgewiesen. Dies mit der lapidaren Begründung, dass die Beklagte die Positionen unter Berücksichtigung der Richtlinie und Ausführungen in den Festlegungen des GKV Spitzenverbandes, insbesondere des Frage-Antwort Kataloges (FAQ) des GKV-Spitzenverbandes erneut geprüft habe.

Zur Klärung der beiden Fragen, nämlich ob es sich zum einen überhaupt um angefallene außerordentliche Aufwendungen im Sinne von § 150 Abs. 2 SGB XI (a.F.) handelt, zum anderen, ob diese das Maß des Notwendigen überstiegen, hat sich die Beklagte lediglich darauf beschränkt, die substantiierten Angaben des Klägers im Rahmen des Nachweisverfahrens sowie des Widerspruchsverfahrens mit den „Kostenerstattungs-Festlegungen” sowie den „Fragen und Antworten zur Umsetzung der Kostenerstattungs-Festlegungen (FAQ)” abzugleichen. Weitere Sachverhaltsermittlungen, und damit eine Ermittlung aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände im Sinne des § 20 SGB X, fanden nicht statt.

Was sagt das Sozialgericht Nürnberg (Az.: S 19 P 160/23)?

Das Sozialgericht Nürnberg erteilt diesem Vorgehen eine deutliche Absage. Es hat der vom Kläger zulässigerweise erhobenen Anfechtungsklage stattgegeben und den Rückforderungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids in vollem Umfang aufgehoben. Die Besonderheit: Das Gericht greift auf die Vorschrift des § 131 Abs. 5 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zurück, wonach das Gericht, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben kann, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist.

Eine solche Entscheidung kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen. Insbesondere wenn seitens der Behörde der Sachverhalt nur ungenügend aufgeklärt ist und die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art und Umfang erheblich sind, entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen, ob es nach § 113 Abs. 5 SGG vorgehen will. Zur Feststellung der Erheblichkeit der noch ausstehenden Ermittlungen sind diese mit denjenigen Ermittlungen und sonstigen notwendigen Handlungen des Gerichts zu vergleichen, die das Gericht ohnehin voraussichtlich hätte durchführen müssen, wenn die beklagte Behörde die vom Gericht für erforderlich gehaltenen Ermittlungen durchgeführt hätte. Übergeordnete Gesichtspunkte, die eine Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung rechtfertigen sollen, sind insbesondere dann gegeben, wenn die Verwaltung ihre Aufgabe, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, nicht wahrgenommen, sondern im Sinne eines sog. Ermittlungsausfalls unterlassen hat, also keine für die Beurteilung des Streitgegenstandes verwertbare Ermittlung vorliegt (vgl. LSG BW BeckRS 2020, 15749 unter Verweis auf SächsLSG BeckRS 2012, 69022; LSG Bln-Bbg BeckRS 2009, 54211).

Im konkreten Fall attestiert das Sozialgericht der Behörde sogar, dass diese ihre Pflicht zur Ermittlung aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände (§ 20 SGB X) grob verletzt habe. Es liege praktisch ein „Totalausfall“ der Ermittlungen vor.

In der Konsequenz hob das Sozialgericht den Rückforderungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Verwaltungsakt vollständig aufgehoben und nicht etwa zurück verwiesen wurde. Ob die Behörde einen neuen Bescheid erlässt, ist ihr zwar – nach materiellem Recht – grundsätzlich überlassen. Die Hürden für die Begründung eines solchen Verwaltungsaktes sind jedoch hoch, da zunächst umfangreiche Sachverhaltsermittlungen vorgenommen werden müssen.

Praxishinweis – Angriff ist die beste Verteidigung!

Es ist durchaus erfolgsversprechend, sämtliche Bescheide der Pflegekassen, die darauf gerichtet sind, eine Rückerstattung vorläufig gewährter außerordentlicher Aufwendungen anlässlich Corona zu vollziehen, überprüfen zu lassen. Denn die Behörde darf die Frage, welche Aufwendungen zugelassene Pflegeeinrichtungen infolge des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 tätigen mussten nicht pauschal, sondern ausschließlich einzelfallbezogen beantworten. Ausschlaggebend sind dabei u.a. die jeweiligen Verhältnisse vor Ort insbesondere in Bezug auf die vorhandenen Räumlichkeiten, die Sach- und Personalausstattung, die Zahl der Pflegebedürftigen sowie den Grad ihrer Pflegebedürftigkeit. Stehen Mehraufwendungen im Streit bedarf es zudem eines Abgleiches mit den Verhältnissen vor Beginn der Pandemie. Gerade deshalb sieht Ziffer 3 der Anlage zu den Kostenerstattungs-Festlegungen nach § 150 Abs. 3 SGB XI folgerichtig vor, dass zur Darlegung von Mehraufwendungen – insbesondere für übliche Verbrauchsmittel – Vergleichsrechnungen aus dem Geschäfts(vor)jahr angefordert werden können. Wenn sich die Behörde lediglich auf den pauschalen „Abgleich” mit den „Kostenerstattungs-Festlegungen” sowie den „Fragen und Antworten zur Umsetzung der Kostenerstattungs-Festlegungen (FAQ)” beschränkt und nicht einmal diejenigen Ermittlungen durchführt, die sich aufgrund dieses „Abgleichs” aufgedrängt hätten, hat sie ihre Pflicht, zur Ermittlung aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände (§ 20 SGB X) grob verletzt.


Gerne unterstützen wir Sie bei der Überprüfung der Rückforderungsbescheide. Sie haben die Widerspruchsfrist versäumt? Wir prüfen für Sie die Möglichkeit eines sog. „Zugunstenverfahrens” gem. § 44 SGB X.


AUTOREN

Norman Lenger-Bauchowitz
Co-Autorin: Pauline Rauch



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Norman Lenger-Bauchowitz, LL.M.

Mediator & Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachberater für Restrukturierung & Unternehmensplanung (DStV e.V.)

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