Mittelbare Diskriminierung durch Ausschluss einer Elternzeitkündigung vom Massenentlassungsschutz

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​veröffentlicht am 10. Mai 2017
 

Bundesarbeitsgericht (BAG) ändert Rechtsprechung

 

  

 

Einleitung

Unternehmerische Veränderungen und die Anforderungen an eine Massenentlassung nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) sind immer wieder Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Neben den Anforderungen an das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat spielen regelmäßig auch Formfehler bei der Anzeige selbst eine Rolle bei Frage der Wirksamkeit einer Kündigung. Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist nun noch einmal durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erweitert worden.
 

Vorüberlegung

Massenentlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen bedürfen gemäß § 17 KSchG zu ihrer Wirksamkeit einer vorherigen ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats und einer vorherigen ordnungsgemäßen Anzeige an die Agentur für Arbeit. Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist europarechtlich durch die RL 98/59/EG (die sogenannte Massenentlassungsrichtlinie) festgelegt. Nach der Rechtsprechung des Europäische Gerichtshof (EuGH) ist unter „Entlassung“ die Kündigungserklärung zu verstehen, was dazu führte, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Massenentlassungsschutz auch für Personen in Elternzeit ausschließlich anhand des Zeitpunkts des Zugangs der Kündigung bestimmt hat – der Zugang der Kündigung also innerhalb oder außerhalb des 30-Tage-Zeitraums lag.
 

Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin war bei einer Fluggesellschaft als Mitglied des Bodenpersonals (Beklagte) beschäftigt. Die Fluggesellschaft beendete ihre Geschäftstätigkeit in Deutschland und sprach daher gegenüber allen Arbeitnehmern im Dezember 2009/Januar 2010 Kündigungen aus. Diese waren unwirksam, da das Konsultationsverfahren nach § 17 Absatz 2 KSchG mit dem Gesamtbetriebsrat nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde.
 
Das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens (Beschwerdeführerin), die sich zum damaligen Zeitpunkt in Elternzeit befand, kündigte die Beklagte erst im März 2010 wegen Betriebsstilllegung. Zu dem späteren Kündigungsausspruch kam es, weil die Beklagte zunächst die Zulässigkeitserklärung der Kündigung durch die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde nach § 18 Absatz 1 Satz 2 und 3 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) alter Fassung abzuwarten hatte.
 
Die von der Klägerin erhobene Kündigungsschutzklage blieb erfolglos. Das BAG wies die Revision zurück, da die Kündigung im März 2010 nicht im Zusammenhang mit den Kündigungen von Dezember 2009/Januar 2010 stehe und damit nicht in die 30-Tage-Frist des § 17 Absatz 1 Satz 1 KSchG falle. Die Kündigung sei daher nicht anzuzeigen gewesen.
 
Das BVerfG hat das Urteil des BAG mit Beschluss vom 8. Juni 2016 (Az. 1 BvR 3634/13) aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das BAG zurückverwiesen, weil es die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 i.V.m. Art. 6 GG verletze. Der Ausschluss der Klägerin von den Schutzwirkungen der Regeln zur Massenentlassung beruhe auf der Auffassung des BAG, dass der Massenentlassungsschutz auch für Personen in Elternzeit ausschließlich anhand des Zeitpunkts des Zugangs der Kündigung zu bestimmen sei, so die Richter des BVerfG. Insbesondere in Fällen der Betriebsstilllegung ergibt sich daraus ein geringeres Schutzniveau für Personen, die nach dem Willen des Gesetzgebers besonders schutzwürdig sind und deshalb besonderen Kündigungsschutz genießen, da die zuständige oberste Landesbehörde die Kündigung in solchen Fällen trotz der Elternzeit regelmäßig für zulässig erklärt, wie das BVerfG in seinem Urteil weiter ausführt. Nur die Verzögerung durch das Abwarten der Erklärung führt dazu, dass die Kündigung außerhalb des für eine Massenentlassung i.S.v. § 17 Absatz 1 Satz 1 KSchG relevanten 30-Tage-Zeitraums ausgesprochen werden kann.
 
Begründet hat das BVerfG die unterschiedlichen Anforderungen einer nachteiligen Behandlung von Personen in Elternzeit wegen des Zusammenhangs von § 17 Absatz 1 Satz1 KSchG mit Art. 6 Abs. 1 GG.
 
Zwar kann nach dem BVerfG eine Benachteiligung durch anderweitige begünstigende Regelungen ausgeglichen werden, der Kündigungsschutz bei Massenentlassung und bei Elternzeit unterscheide sich jedoch, was sich in der vorliegenden Konstellation ausgewirkt hat. In beiden Fällen führen lediglich formale Verletzungen zur Unwirksamkeit der Kündigungen, allerdings statuiert § 17 KSchG höhere formale Anforderungen, indem einerseits eine Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit begründet werde, um diese frühzeitig in die Lage zu versetzen, die Folgen der Entlassungen für die Betroffenen möglichst zu mildern, und andererseits auch der Betriebsrat umfassend zu unterrichten und die Entlassung mit ihm zu beraten sei, so das BVerfG. Die Gestaltungsoption des Betriebsrats und die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit schon vor Ausspruch der Kündigung werden denjenigen genommen, die aufgrund besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen. Dieser Nachteil werde auch nicht dadurch kompensiert, dass es aufgrund des Verwaltungsverfahrens, mit dem das Kündigungsverbot aufgehoben werden soll, regelmäßig zu einem späteren Kündigungstermin komme, so das BVerfG weiter.
 
Nach dem BVerfG verstoße die Auffassung des BAG, eine Kündigung unterfalle nur dann den für Massenentlassungen geltenden Regelungen, wenn sie innerhalb der 30-Tage-Frist des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zugehe, zudem gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in seiner Verstärkung durch das Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG. Sie führe zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts, so das Gericht weiter. Zwar knüpfe die Schlechterstellung an die Elternschaft an, doch treffe sie damit Frauen in erheblich höherem Maß als Männer, weil Elternzeit jedenfalls bislang in evident höherem Maß von Frauen in Anspruch genommen werde, so die Aussage der Richter. Eine sachliche Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung hat das BVerfG nicht gesehen.
 

Kontext der Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht hat nun die Rechtsprechung des BVerfG übernommen und mit Urteil vom 26. Januar 2017 (Az. 6 AZR 442/16) der Revision stattgegeben sowie die Kündigung für unwirksam erklärt. Beachtenswert ist die Entscheidung v.a. vor dem Hintergrund, weil das BVerfG mit diesen Vorgaben zur verfassungskonformen Auslegung des § 17 KSchG, ohne das ausdrücklich so zu nennen, den Entlassungsbegriff für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz gegenüber den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union erweitert hat.
 
Bisher ist bei aufeinanderfolgenden Entlassungen regelmäßig darauf abgestellt worden, ob im maßgeblichen Zeitfenster von 30 Tagen eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern entlassen werden sollte. Nach der nun vorliegenden Entscheidung des BVerfG – dem sich das BAG wohl, wie man den Urteilsgründen am Ende entnehmen kann, nur sehr widerwillig und nur aufgrund der gesetzlichen Bindungswirkung durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetzes angeschlossen hat – kommt es nun in diesem Kontext auch darauf an, ob in dem 30-Tage-Zeitraum auch Anträge wegen Zustimmung zu einer Kündigung einer Person mit Sonderkündigungsschutz gestellt werden. Der vorliegende Fall betraf zwar eine Kündigung einer Person in Elternzeit, die gleichen Zustimmungserfordernisse gelten aber auch für Schwerbehinderte, Schwangere und weitere Gruppen mit Sonderkündigungsschutz und einem Zustimmungserfordernis.
 
Die Entscheidung des BVerfG wirft auch die Problematik auf, ob der verfassungskonforme Entlassungsbegriff für alle Massenentlassungen gilt oder nur bei Betriebsstilllegungen. Offen ist ferner, wie Kündigungen zu behandeln sind, bei denen der Antrag außerhalb des zeitlichen Zusammenhangs von 30 Tagen mit anderen Massenentlassungen erfolgt. Probleme entstehen insbesondere dann v.a., wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Frist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt wird, wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist oder wenn ein Arbeitgeber Kündigungen so staffelt, dass die Schwellenwerte stets (gerade noch) unterschritten werden, um so den Massenentlassungsschutz zu vermeiden.
 

Auswirkungen der Entscheidung

Die Benachteiligung von Personen mit besonderem Kündigungsschutz lässt sich wohl nur dadurch vermeiden, dass die ihnen gegenüber erklärten Kündigungen, die allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugehen, weil zunächst ein anderes, nicht gleichwertiges behördliches Verfahren durchzuführen war, so behandelt werden wie Kündigungen, für die die Regeln des Massenentlassungsschutzes gelten. Bei Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz gilt der 30-Tage-Zeitraum nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb dieses Zeitraums erfolgt ist. Es bleibt aber die nähere Rechtsprechung hierzu abzuwarten.
 

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