Dringlichkeitsvergaben der Öffentlichen Hand bei Pandemielagen: Verhandlungsverfahren

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veröffentlicht am 24. März 2021 | Lesedauer ca. 4 Minuten


Bei der Vergabe von Liefer-, Dienst- und Bauleistungen, die den jeweiligen EU-Verga­be­schwellenwert überschreiten, kommt für öffentliche Auftraggeber eine Dringlich­keitsbeschaffung als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb in Betracht. Das Verfahren kann durchgeführt werden, wenn ein unvorhergesehenes Ereignis zu äußerst dringlichen und zwingenden Gründen bei der Beschaffung führt, aufgrund derer die Einhaltung der Mindestfristen anderer Verfahren unmöglich ist (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A, § 13 Abs. 2 Nr. 4 SektVO).


Die Infektionen mit dem Coronavirus (Covid-19) wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits am 11. März 2020 zur Pandemie erklärt. Spätestens seit dem Zeitpunkt lag auch in Deutschland ein Ereignis vor, das von den Auftraggebern in seinen umfassenden, dynamischen Auswirkungen auf nahezu sämtliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche nicht vorhergesehen werden konnte. Die öffentlichen Auftraggeber konnten nicht im Voraus wissen, dass der exponentielle Anstieg der Infektionszahlen zu sehr drinlichen und zwingenden Beschaffungsbedarfen führt, um insbesondere die vielfältigen Aufgaben der öffentlichen Hand weiterhin gewährleisten zu können. Zu den dringlichen und zwingend benötigten Leistungen, um die öffentlichen Aufgaben – v.a. im ambulanten und stationären Gesundheits- und Sozialwesen – im ursächlichen Zusammen­hang mit der zeitnahen Bewältigung der Corona-Pandemie sicherstellen zu können, zählen dabei insbesondere:

  • medizinische Geräte (z.B. Beatmungsgeräte),
  • Medizinprodukte (bspw. Labordiagnostika),
  • medizinische Verbrauchsmaterialien (z.B. Verbandsmaterial),
  • Produkte zur Desinfektion,
  • antivirale Arzneimittel,
  • Impfstoffe,
  • Schmerzmittel,
  • Impfsets (Spritzen, Kanülen usw.),
  • infektionspräventive Produkte (bspw. Einmalhandschuhe, Schutzmasken/-kleidung),
  • Intensiv-/Krankenbetten,
  • Matratzen,
  • Einmalbettwäsche,
  • IT-Hard-/Software für medizinische Zwecke oder zur Ermöglichung von Heimarbeit (Notebooks, Videokonferenztechnik, Fernzugriffssoftware) oder zwecks schulischer Unterrichtung,
  • Sicherheitsdienstleistungen (z.B. für Patientenwartebereiche),
  • infektionspräventive Desinfektions-/Reinigungsdienstleistungen,
  • Dienstleistungen zum Betrieb von Corona-Teststationen,
  • Behandlungscontainer/-zelte,
  • Einbau von Trennwänden zur Separierung mehrfach belegter Büros,
  • Umbauten und die Ausstattung zur Erhöhung der Anzahl von Videokonferenzräumen.


Die mit der Corona-Pandemie verbundene Krisensituation und die daraus notwendigen dringlichen Be­schaffungen beschränken sich somit nicht nur auf medizinische Heil- und Hilfsmittel, sondern erfassen auch die notwendigen Anschaffungen für die Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwal­tung und dem Bereich der Daseinsvorsorge.


Reguläres Vergabeverfahren nicht durchführbar

Es steht außer Zweifel, dass v.a. die mit dem Coronavirus Infizierten eine schnellst- und bestmögliche medi­zinische Behandlung erhalten müssen. Das Gleiche gilt für das medizinische Personal, das besonders ansteckungsgefährdet ist und schnellstmöglich in die Lage versetzt werden muss, Erkrankten ohne Gefahr für die eigene Gesundheit und das eigene Leben medizinische Hilfe leisten zu können. Ebenso muss dafür Sorge getragen werden, dass die öffentlichen Aufgaben weiterhin in ausreichender Qualität gewährleistet werden. Es gilt letztlich, eine weitere Ausbreitung des Coronavirus soweit wie möglich einzudämmen.

Die dafür nötigen, oben beispielhaft beschriebenen Leistungsgegenstände können daher häufig nicht durch ein anderes Vergabeverfahren, wie etwa ein offenes Verfahren, unter Einhaltung der jeweiligen Mindestfristen beschafft werden, weil der jeweilige Beschaffungsbedarf unverzüglich gedeckt werden muss. Es ist davon auszugehen, dass jede andere Verfahrensart aufgrund der vergaberechtlichen Vorgaben länger dauert als ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb (vgl. Tabelle), so die Vergabekammer Bund (Beschluss vom 13. August 2020, Az.: VK 1-54/20).
   

(Für eine optimale Darstellung der Tabelle empfiehlt sich die Nutzung eines Desktop-PC.)

Offene Verfahren Nichtoffenes Verfahren Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb
mind. 15 Tage Angebotsfrist plus 10 Tage Wartefristmind. 15 Tage Teilnahmefrist plus 10 Tage Angebotsfrist plus 10 Tage Wartefrist15 Tage Teilnahmefrist plus mind. 10 Tage Angebotsfrist plus 10 Tage Wartefrist


Realistischerweise sind zusätzlich noch weitere Tage für die Beantwortung von Bieterfragen, die Prüfung der Teilnahmeanträge und Angebote sowie für etwaige Aufklärungsmaßnahmen hinzuzurechnen (Vergabekammer Südbayern, Beschluss vom 21. Oktober 2020, Az.: 3194.Z3-3-01-20-31). Eine „Dringlichkeitsbeschaffung” darf deshalb keinen längeren Zeitaufschub dulden. Ob und für welche Leistungsgegenstände die Mindestfristen auch noch rund ein Jahr nach Eintritt der Corona-Pandemielage unzureichend sind, ist letztlich stets von Fall zu Fall zu prüfen. Die Europäische Kommission jedenfalls hält es für wahrscheinlich, dass die meisten Beschaffungen, zumindest soweit sie den durch die ansteigende Infektionskurve erheblich erhöhten kurzfristi­gen Bedarf betreffen, durchaus mit den verkürzten Mindestverfahrensfristen regulärer Vergabeverfahren durchgeführt werden können.


Verhandlungen nur mit einem einzigen Unternehmen möglich

In ablauforganisatorischer Hinsicht kann das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit einem oder mehreren Unternehmen durchgeführt werden. Eine Verhandlung mit einem einzigen Unternehmen ist aber nur möglich, wenn allein das eine Unternehmen in der Lage sein wird, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten zeitlichen Zwängen zu erfüllen (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Rundschreiben v. 19. März 2020, Az.: 20601/000#003). Sind aber zwei oder mehr Unternehmen entsprechend leistungsbereit, ist das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit ihnen durchzu­führen.


Praxisbeispiel

Am 13. März 2020 erkundete der Freistaat Bayern bei sechs Unternehmen die Möglichkeiten zu internet­gestützten Kommunikationswerkzeugen („Videokonferenzwerkzeug 2020”) im Schulbereich. Am 20. April 2020 wurde ein Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert, weil es allein sowohl mit Blick auf die technische Funktionsfähigkeit und Skalierbarkeit für die Bereiche Videokonferenz, kollaborative Dokumentenbearbeitung und Cloudspeicher, die Integration von Office-Anwendungen, die Vorteile einer bereits etablierten Produkt­familie, Datensparsamkeit, ausreichend Schulungsmaterial als auch wegen bereits erbrachter Vorarbeiten zu einer passenden Konfiguration in Betracht kam. Das Unternehmen wurde schließlich beauftragt. Am 22. Mai 2020 rügte ein nicht an der Markterkundung beteiligter Wettbewerber die Auftragserteilung, weil die Voraus­setzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit einem einzigen Unternehmen nicht vorlägen, da einerseits nicht allein der Zuschlagsempfänger in der Lage gewesen wäre, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwängen zu erfüllen und anderer­seits bei einer zeitnahen Umsetzung nach Erkennen des Bedarfs ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahme­wettbewerb hätte durchgeführt werden können. Der beantragte Rechtsschutz blieb ohne Erfolg.

Zwar ist nach Ansicht der südbayerischen Vergabekammer (Beschluss vom 21. Oktober 2020, Az.: 3194.Z3-3-01-20-31) auch bei der Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ein Mindest­maß an Wettbewerb durch Aufforderung mehrerer geeigneter Unternehmen zu gewährleisten. Aller­dings hat die vom Freistaat Bayern durchgeführte Markterkundung gezeigt, dass der gewünschte Funktions­umfang bei den dort sechs angefragten Unternehmen nur von einem einzigen Unternehmen vollständig angeboten wurde. Zu einer weitergehenden Markterkundung dahingehend, welche Unternehmen die Leistung ggf. im Rahmen von Bietergemeinschaften oder durch Modifikation oder Erweiterung ihrer bestehenden Leistungen hätten erbringen können, war der Freistaat Bayern nicht verpflichtet. Angesichts der zeitlichen Zwänge, die Leistung kurzfristig bereitzustellen, durfte sich der Freistaat Bayern bei seiner Markterkundung auf bereits etablierte Bieter beschränken. Vor dem Hintergrund spricht einiges dafür, dass der Freistaat Bayern nicht nur rechts­konform ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt hat, sondern ebenso, dass er an dem Verfahren nur ein einziges Unternehmen beteiligt hat. Bei einer IT-Beschaffung also, bei der die Voraus­setzungen des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV erfüllt sind, kann sich der öffentliche Auftraggeber regelmäßig auf Anbieter beschränken, die die geforderte Leistung bereits fertig entwickelt und marktreif anbieten.


Fazit

Das EU-Vergaberecht bietet öffentlichen Auftraggebern flexible Beschaffungsmöglichkeiten, um besonderen Ausnahmensituationen gerecht zu werden. So sind Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb mit nur einem einzigen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen vergaberechtlich zulässig.

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