Steuerrecht und Haftung – Einkommensteuererklärung eines Chefarztes (BFH, 18.04.2023, VIII R 9/20)

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​Kein grobes Verschulden bei Erklärung wahlärztlicher Leistungen bei Einnahmen aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit in der Einkommensteuererklärung eines Chefarztes (BFH, 18.04.2023, VIII R 9/20)

 

veröffentlicht am 29. Juni 2023


Die Bestandskraft eines Steuerbescheids und die Änderungsmöglichkeiten nach § 172 ff. der Abgabenordnung (AO) spielen in der Praxis eine bedeutende Rolle. Das gilt insbesondere für Korrekturmöglichkeiten zu Gunsten des Steuerpflichtigen nach Bestandskraft eines Steuerverwaltungsaktes, also Korrekturen, die zu einer niedrigeren Steuer führen. In diesem Zusammenhang kommt dem Tatbestand des ,,groben Verschuldens” in § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO eine wichtige Rolle zu. Ob ein grobes Verschulden bei der Erklärung wahlärztlicher Leistungen bei Einnahmen aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit in der Einkommensteuererklärung eines Chefarztes vorlag, das eine Korrektur des Steuerbescheides verhindert, hatte der BFH in unserer Entscheidung des Monats zu klären.


Sachverhalt

Was war geschehen? Ein Chefarzt war in der chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses angestellt und erhielt für seine Tätigkeit eine feste monatliche Vergütung. Gleichzeitig wurde ihm in seinem Dienstvertrag das Liquidationsrecht für von ihm erbrachte wahlärztliche Leistungen eingeräumt. In den Streitjahren hat der Chefarzt wahlärztliche Leistungen erbracht, und zwar sowohl in Form von Behandlungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten als auch in Form ambulanter Sprechstunden. Die Abrechnung aller Wahlleistungen erfolgte über einen vom Chefarzt beauftragten Abrechner. Die Einnahmen aus den stationär erbrachten Wahlleistungen behandelte das Krankenhaus als Bezüge aus dem Dienstverhältnis und unterwarf diese dem Lohnsteuerabzug. Die Einnahmen aus der ambulanten wahlärztlichen Tätigkeit des Klägers berücksichtigte es dabei nicht. Hier ging der Arbeitgeber davon aus, dass es sich insoweit um Leistungen des Chefarztes handelte, die als außerhalb des Dienstverhältnisses erbracht einzustufen sind. Alle als lohnsteuerpflichtig eingestuften Einnahmen wurden in den Gehaltsmitteilungen des Chefarztes - neben zahlreichen weiteren Positionen - ohne weitere Konkretisierung in der Zeile "Mitversteuerung" ausgewiesen. In seinen Einkommensteuererklärungen erklärte der Chefarzt die Vergütungen aus allen wahlärztlichen Leistungen in der Einnahmen-Überschuss-Rechnung als Einnahmen bei seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit. Antragsgemäß erfolgte auch die Veranlagung. Die Steuerbescheide wurden bestandskräftig. Als der Chefarzt - nach Bestandskraft der Bescheide - bemerkte, dass offenbar eine Doppelbesteuerung stattgefunden hatte, beantragte er eine Änderung der Bescheide für die Streitjahre gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO mit der Begründung, es sei ihnen erst nachträglich bekannt geworden, dass die Einnahmen aus den stationär erbrachten Wahlleistungen vom Krankenhaus dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden seien. Daher seien Einnahmen unerkannt auch als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erklärt und im Ergebnis doppelt besteuert worden.


Sowohl Finanzamt (FA) als auch Finanzgericht (FG) lehnten eine Korrektur der Steuerbescheide ab. Den Chefarzt treffe hinsichtlich der unrichtigen Angabe der Einkünfte im Rahmen der Einkommensteuererklärungen ein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Er habe ohne weiteres erkennen können und müssen, dass der von seinem Arbeitgeber in den Lohnsteuerbescheinigungen ausgewiesene Bruttoarbeitslohn und das in den monatlichen Gehaltsmitteilungen ausgewiesene steuerpflichtige Brutto das vereinbarte Festgehalt nebst Zulagen deutlich überstiegen habe.

 

Entscheidung des BFH

Nein, sagt der Bundesfinanzhof (BFH) und lies die Korrektur der Steuerbescheide zu. Als grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO habe ein Steuerpflichtiger lediglich Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Die grobe Fahrlässigkeit verneint der BGH, weil der Steuerpflichtige nicht die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat. Ein Mangel an Kenntnissen eines steuerrechtlich nicht vorgebildeten Steuerpflichtigen ist grundsätzlich nicht geeignet, den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu begründen. Das wäre nur dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige einer Zweifelsfrage nicht nachgeht, die sich ihm hätte aufdrängen müssen. So war es hier nicht. Vielmehr hat das FG den Begriff des "groben Verschuldens" i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO unzutreffend ausgelegt, weil es zu hohe Anforderungen an die Voraussetzungen gestellt hat. Das FG hat seine Würdigung für das Vorliegen eines groben Verschuldens der Kläger u.a. auf die vertragliche Vereinbarung zwischen Chefarzt und Krankenhaus gestützt. Danach habe es nahe gelegen, die Einnahmen aus der Erbringung von Wahlleistungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten dem Dienstverhältnis zuzuordnen, da die Erbringung und Vergütung dieser Leistungen im Dienstvertrag auch geregelt war. Hingegen hat das Krankenhaus für die Erbringung der ambulanten Wahlleistungen eine Nebentätigkeitserlaubnis erteilt. Das reicht nach Auffassung des BFH allein jedoch nicht aus. Denn dieser Ansatz berücksichtigt nicht hinreichend, dass die Frage, ob wahlärztliche Leistungen innerhalb oder außerhalb des Dienstverhältnisses erbracht werden, nach der Rechtsprechung des BFH nur aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls beantwortet werden kann. Für die Gesamtwürdigung ist jedoch relevant,

  • ob die Tätigkeit zur Erbringung der wahlärztlichen Leistungen zu den gegenüber dem Krankenhausträger vertraglich geschuldeten Dienstaufgaben gehört,
  • ob der Arzt nach dem Dienstvertrag den Weisungen des Krankenhausträgers unterliegt und hinsichtlich der Erbringung der wahlärztlichen Leistungen in den geschäftlichen Organismus des Krankenhauses eingebunden ist und
  • inwieweit Unternehmerinitiative und Unternehmerrisiko vorliegen bzw. fehlen.


Ausgehend war die Zuordnung der Einnahmen aus den stationär erbrachten Wahlleistungen des Chefarztes zu seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit rechtlich fehlerhaft gewesen. Sie beruhte jedoch, (auch) auf einem Rechtsirrtum. Ein Rechtsirrtum ist in der Regel kein grobes Verschulden. Entgegen der Auffassung des FG ist es auch nicht grob schuldhaft, dass der Chefarzt es unterließ, die Lohnsteuerbescheinigungen und die monatlichen Gehaltsabrechnungen daraufhin abzugleichen, ob abweichend von seinen im Dienstvertrag vereinbarten Vergütungsbestandteilen auch Einnahmen aus der stationären wahlärztlichen Tätigkeit von seinem Arbeitgeber dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden waren. Zwar hätte auffallen müssen, dass in den monatlichen Gehaltsabrechnungen unter dem Titel "Bruttounwirksam" mit der Bezeichnung "Mitversteuerung" weitere Beträge aufgeführt waren. Nur war ebenfalls bei den Gesamtumständen zu berücksichtigen, dass der Chefarzt keine Mitteilung erhalten hatte, als das Krankenhaus dazu übergegangen war, die Einnahmen aus den stationär erbrachten Wahlleistungen - anders als die Einnahmen aus der ambulanten Tätigkeit - dem Lohnsteuerabzug zu unterwerfen. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Chefarzt sämtliche Vergütungen aus den Privatliquidationen unverändert auf seinem privaten Bankkonto vereinnahmte, stellt sich sein Verhalten zwar als nachlässig, nicht aber als eine die Grenze zur groben Fahrlässigkeit überschreitende Sorgfaltspflichtverletzung dar. Ein dem Chefarzt zuzurechnendes grobes Verschulden des steuerlichen Beraters lag ebenfalls nicht vor. Insbesondere begründet auch der Umstand, dass der steuerliche Berater die Angaben in der Einkommensteuererklärung zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nur anhand der Lohnsteuerbescheinigungen erstellt und nicht auch die monatlichen Gehaltsabrechnungen vom Kläger angefordert hat, nicht den Vorwurf der groben Sorgfaltspflichtverletzung. Der steuerliche Berater der Kläger hatte keinen Anlass, an der Richtigkeit der Lohnsteuerbescheinigungen zu zweifeln.

 

Praxishinweis: Das Vorliegen eines groben Verschuldens ist im Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Gesichtspunkte und Tatsachen genau zu prüfen. Nicht selten ergibt sich hier auch nach Eintritt der Bestandskraft eines Steuerbescheids die Möglichkeit der Korrektur.

 

AUTOR

Norman Lenger-Bauchowitz

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Norman Lenger-Bauchowitz, LL.M.

Mediator & Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachberater für Restrukturierung & Unternehmensplanung (DStV e.V.)

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