Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und Schadensersatzanspruch nach estnischem Recht

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veröffentlicht am 22. Februar 2023 | Lesedauer ca. 8 Minuten


Im Jahr 2020 entschied der estnische Oberste Gerichtshof in einem Fall (Nr. 2-15-505), in dem die Rechtmäßigkeit des von einem marktbeherrschenden Unternehmen im Rahmen eines Kaufvertrags verlangten Verkaufspreises strittig war. Der Kläger be­haup­tete, der Verkäufer habe seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, und erhob gegen den Beklagten eine Schadensersatzklage und hilfsweise eine Klage auf ungerechtfertigte Bereicherung.



Ein marktbeherrschendes Unternehmen

Nach estnischem Recht ist ein marktbeherrschendes Unternehmen ein Unternehmen oder mehrere Unter­nehmen, die auf demselben Gütermarkt tätig sind und dessen/deren Position es ihm/ihnen ermöglicht, auf diesem Gütermarkt weitgehend unabhängig von Wettbewerbern, Lieferanten und Käufern zu agieren. Eine beherrschende Stellung wird angenommen, wenn ein Unternehmen oder mehrere Unternehmen, die auf demselben Gütermarkt tätig sind, mindestens 40 Prozent des Umsatzes auf dem Gütermarkt erzielen.

 
Markt­­be­herrschend ist auch ein Unternehmen, das über ein wichtiges Mittel verfügt, d.h., in dessen Eigentum, Besitz oder Betrieb ein Netz, eine Infrastruktur oder andere wichtige Mittel sind, die von einer anderen Person nicht dupliziert werden können oder es wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, aber ohne Zugriff zu jene es nicht möglich ist, auf dem Gütermarkt zu agieren.


Missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung

Unter § 16 Ziffern 1 bis 6 des estnischen Wettbewerbsgesetzes (im Folgenden „KonkS“) befindet sich eine offene Liste von Fällen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auf einem Gütermarkt.

 
Der direkte oder indirekte Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf einem Gütermarkt durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten, einschließlich:

  • der unmittelbaren oder mittelbaren Festsetzung oder Anwendung unfairer Einkaufs- oder Verkaufspreise oder sonstiger unfairer Geschäftsbedingungen (Ziffer 1);
  • der Beschränkungen von Produktion, Dienstleistungen, Gütermarkt, technischer Entwicklung oder Investitionen (Ziffer 2);
  • bei gleichwertigen Verträgen unterschiedliche Bedingungen für verschiedene Geschäftspartner anzubieten oder anzuwenden, wodurch einige von ihnen im Wettbewerb benachteiligt werden (Ziffer 3);
  • der Auferlegung zusätzlicher Verpflichtungen für die andere Partei, die nicht mit dem Gegenstand der Vereinbarung zusammenhängen (Ziffer 4);
  • dem Zusammenschluss von Unternehmen mit sich selbst oder mit einem anderen Unternehmen, zum Abschluss einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung, zur Abstimmung einer Verhaltensweise oder zur Erzwingung einer Entscheidung (Ziffer 5);
  • ungerechtfertigter Weigerung, Waren zu verkaufen oder zu kaufen (Ziffer 6).

Um die Rechtswidrigkeit der Handlung des Beklagten zu beurteilen, ist zu prüfen, ob der Beklagte gegen eines der in § 16 Ziffer 1 bis 6 KonkS genannten Verbotes oder gegen ein anderes Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verstoßen hat.


Rechtmäßigkeit des Verkaufspreises

Der estnische Oberste Gerichtshof wies darauf hin, dass der Verkaufspreis nicht rechtmäßig ist, wenn es sich um Folgendes handelt:

  • unfairer Preis im Sinne von § 16 Z. 1 KonkS,
  • Preisdiskriminierung im Sinne von § 16 Z. 3 KonkS; und/oder
  • ungerechtfertigte Verweigerung des Verkaufs von Waren im Sinne von § 16 Z. 6 KonkS.

Handelt es sich um eine unfaire Preisbildung (KonkS § 16 Z. 1), muss Folgendes festgestellt werden:

  • Der Verkäufer (Beklagte) ist das beherrschende Unternehmen auf dem relevanten Gütermarkt (§ 13 KonkS).
  • Der Verkäufer hat dem Käufer direkt oder indirekt unfaire Bedingungen auferlegt.
  • Das Verhalten des Verkäufers als beherrschendes Unternehmen auf dem Gütermarkt war geeignet, den Wettbewerb zu verfälschen.


Feststellung eines unangemessen hohen Preises

Da sich § 16 KonkS über den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung weitgehend auf Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union stützt, stützte das estnische Gericht seine Auslegung auch auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Handelt es sich bei dem Beklagten um ein Unternehmen, das auf dem betreffenden Gütermarkt eine beherrschende Stellung hat, so ist zu prüfen, ob es gegenüber dem Kläger (dem Käufer) unfaire Bedingungen auferlegt hat.


Um festzustellen, ob ein marktbeherrschendes Unternehmen einen unangemessen hohen Verkaufspreis festgesetzt hat, muss nach dem estnischen Gericht geprüft werden, ob der Preis überhaupt überhöht ist.

  • Eine Möglichkeit, um festzustellen, ob ein Preis überhöht ist, besteht darin, den für das Produkt verlangten Preis mit den Produktionskosten zu vergleichen (siehe z. B. das Urteil des Gerichtshofs vom 14. Februar 1978 in der Rechtssache C-27/76, United Brands/Kommission, Rn. 251, 252).
  • In manchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, verschiedene Methoden zu kombinieren. Wird ein Vergleich mit den in anderen Ländern angewandten Preisen herangezogen, sollte jeder Vergleichsmaßstab auf der Grundlage objektiver, geeigneter und überprüfbarer Kriterien ausgewählt werden, und die Preise sollten auf einer einheitlichen Grundlage verglichen werden (siehe Urteil des Gerichtshofs vom 14. September 2017 in der Rechtssache C-177/16, Biedrība „Autortiesību un komunicēšanās konsultāciju aģentūra – Latvijas Autoru apvienība“ gegen Konkurences padome, Rn. 38, 41, 44 und 51).
  • Es gibt keine Mindestschwelle, ab der ein Tarif als „erheblich höher“ zu bewerten ist. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Ein Unterschied zwischen Gebühren kann „erheblich“ sein, wenn er im Licht des Sachverhalts für den betreffenden Markt signifikant und anhaltend ist (siehe z. B. das Urteil des Gerichtshofs vom 14. September 2017 in der Rechtssache C-177/16, Biedrība „Autortiesību un komunicēšanās konsultāciju aģentūra – Latvijas Autoru apvienība“ / Konkurences padome, Rn 55).
  • Ein Verstoß gegen § 16 Z. 1 KonkS liegt u. a. dann vor, wenn der Preis überhöht ist, weil er in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der Leistung steht (siehe z. B. das Urteil des Gerichtshofs vom 14. Februar 1978 in der Rechtssache C-27/76, United Brands/Kommission, Rn. 250).


Feststellung einer Preisdiskriminierung

Handelt es sich um eine Preisdiskriminierung (KonkS § 16 Z. 3), muss Folgendes festgestellt werden:

  • Der Verkäufer ist ein beherrschendes Unternehmen auf dem relevanten Gütermarkt (KonkS § 13).
  • Das marktbeherrschende Unternehmen hat mit anderen Marktteilnehmern gleichwertige Vereinbarungen/Geschäfte geschlossen.
  • Das marktbeherrschende Unternehmen hat bei gleichwertigen Vereinbarungen andere Bedingungen angewandt.
  • Eine unterschiedliche Behandlung kann die anderen Vertragsparteien (den Käufer) in eine Situation bringen, die dem Wettbewerb schadet (der Käufer kann einen Wettbewerbsnachteil erleiden).
  • Es gibt keine objektive Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung.


Im Falle einer Preisdiskriminierung ist daher zu prüfen, ob das marktbeherrschende Unternehmen neben der Vereinbarung mit dem Kläger noch weitere gleichwertige Vereinbarungen abgeschlossen hat. Zu diesem Zweck sind unter anderem die Beschaffenheit des verkauften Erzeugnisses und die Kosten der Lieferung zu berücksichtigen.

Bei gleichwertigen Vereinbarungen muss geprüft werden, ob unterschiedliche Bedingungen für die Vereinbar­ungen gelten. Auch insoweit verweist das estnische Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs: z. B. Urteil des Gerichtshofs vom 9. November 1983 in der Rechtssache C-322/81, Michelin/Kommission, S. 87-91; Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007 in der Rechtssache C-95/04 P, British Airways/Kommission, S. 133-141; Urteil des Gerichtshofs vom 29. März 2001 in der Rechtssache C-163/99, Portugal/Kommission, S. 50).

Falls es festgestellt wird, dass für gleichwertige Vereinbarungen unterschiedliche Bedingungen gelten, muss unter anderem auch geprüft werden, ob die unterschiedliche Behandlung den Kläger (den Käufer) im Wettbe­werb benachteiligen kann.


Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfordert die Feststellung einer Benachteiligung im Wettbewerb „nicht den Nachweis einer tatsächlichen und messbaren Verschlechterung der Wettbewerbsposition, sondern ist auf eine Analyse aller relevanten Umstände des Einzel­falls zu stützen, die den Schluss zulässt, dass dieses Verhalten einen Einfluss auf die Kosten, auf die Gewinne oder auf ein anderes maßgebliches Interesse eines oder mehrerer dieser Partner hat, so dass dieses Verhalten geeignet ist, diese Position zu beeinträchtigen“ (siehe z. B. das Urteil des Gerichtshofs vom 19. April 2018 in der Rechtssache C-525/16 – Meo – Serviços de Comunicações e Multimédia, Rn. 37).

Ein Unternehmen in marktbeherrschender Stellung kann jedoch nachweisen, dass es eine objektive Recht­fertigung für die unterschiedliche Behandlung gibt.


Schutzzweck der Schutznorm im Falle eines Schadensersatzanspruchs

Für jede der (unter § 16 (1) bis (6) KonkS aufgeführten) Schutznormen muss der Zweck der jeweiligen Schutz­norm geprüft werden, um festzustellen, ob die Handlung rechtswidrig ist. Ein durch die Verletzung einer gesetz­lichen Pflicht verursachter Schaden ist nur dann rechtswidrig, wenn die vom Schädiger verletzte gesetzliche Bestimmung (im Sinne von § 1045 Abs. 3 Schuldrechtsgesetz, im Folgenden „VÕS“) den Zweck hat, den Ge­schä­digten vor einem solchen Schaden zu schützen. Es ist daher zu prüfen, ob der Zweck des § 16 Z. 1 KonkS (Verbot unfairer Bedingungen) ist, denjenigen, der ein Geschäft mit einem marktbeherrschenden Unternehmen abgeschlossen hat, vor einem unangemessen hohen Verkaufspreis (als Schaden) zu schützen.

  
Das estnische Gericht erklärt:

  • § 16 Z. 1 bis 6 KonkS sind gesonderte deliktsrechtliche Schutznormen im Sinne von § 1045 Abs. 1 Z. 7 VÕS (wonach der Schaden durch ein pflichtwidriges Verhalten verursacht wurde). Es reicht aus, wenn der Beklagte eine einzige Schutznorm verletzt hat, d. h. es ist nicht möglich, eine Schutznorm abzuleiten, die zwei oder mehr der in § 16 Z. 1 bis 6 KonkS enthaltenen Elemente umfasst.
  • Für jede der Bestimmungen in § 16 Z. 1 bis 6 KonkS ist der konkrete Schutzzweck gesondert zu beurteilen. Wenn der Schaden, für den Ersatz verlangt wird, nicht durch den konkreten Schutzzweck der Schutznorm gedeckt ist, ist die Handlung nicht rechtswidrig im Sinne von § 1045(1)(7) VÕS, obwohl andere Voraus­setzungen für eine Verletzung der Schutznorm erfüllt sind.
  • Das Verbot nach § 16 Z. 1 (Verbot unfairer Bedingungen) soll denjenigen, der ein Geschäft mit einem markt­beherrschenden Unternehmen abgeschlossen hat, u.a. vor dem Schaden schützen, der sich aus der Differenz zwischen einem angemessenen und einem unangemessenen Preis ergibt. Diese Preisdifferenz kann als unmittelbarer Vermögensschaden angesehen werden, der vom Schutzzweck des § 16 Z. 1 KonkS erfasst ist.
  • Eine Entschädigung für andere Schäden (z. B. entgangener Gewinn) ist nicht ausgeschlossen, wenn sie eingetreten sind.


Die Unterscheidung zwischen den Schutznormen (KonkS § 16 Z. 1-6) ist auch deshalb wichtig, weil bei der Ent­scheidung über die Frage der Schuld zu prüfen ist, ob der Beklagte Schuld an der Verletzung einer bestimm­ten Schutznorm trägt. So kann eine Person die Rückforderung eines überhöhten Verkaufspreises (im Sinne von § 16 Z. 1 KonkS auf der Grundlage der §§ 1043, 1045 Abs. 1 Z. 7, 1045 Abs. 3 und 1050 VÕS) verlangen, wenn das marktbeherrschende Unternehmen schuldhaft gegen § 16 Z. 1 KonkS verstoßen hat.


Anspruch auf Schadensersatz oder ungerechtfertigte Bereicherung

Der Kläger beantragte beim Obersten Gerichtshof, den Schadensersatzanspruch als Hauptanspruch und den Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung als Alternativ zu beurteilen. Der Kläger vertrat die Auffassung, dass das Verhalten des Beklagten rechtswidrig gewesen sei und dem Kläger einen Schaden in Form einer Differenz zwischen dem überhöhten Verkaufspreis und dem angemessenen Verkaufspreis verursacht habe.

Wichtige Klarstellungen des Gerichtshofs:

  • Der überbezahlte Kaufpreis kann sowohl als Schaden aus unerlaubter Handlung als auch als ungerechtfertigte Bereicherung betrachtet werden – der Kläger kann wählen, auf welcher Grundlage und in welcher Reihenfolge er die Rückzahlung verlangt. In beiden Fällen kann auch der gesetzliche Verzugszins (§ 113 VÕS) geltend gemacht werden.
  • Ein Vertrag, bei dem das marktbeherrschende Unternehmen der anderen Partei einen Verkaufspreis festgesetzt hat, der unfair im Sinne des Verbots des § 16 Z. 1 KonkS ist, ist nichtig, soweit er den angemessenen Preis übersteigt. In seinem übrigen Teil ist der Vertrag gültig.
  • Hat die andere Vertragspartei dem marktbeherrschenden Unternehmen aufgrund des Kaufvertrags bereits einen unfairen Preis gezahlt, so kann sie den Mehrbetrag nach den Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung zurückfordern.
  • Im Falle der Anwendung der Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung kann der Beklagte (gemäß § 1035 Abs. 3 Nr. 2 und 3 VÕS) auch verpflichtet sein, dem Kläger Zinsen auf das zu Unrecht erhaltene Geld in der gesetzlich vorgesehenen Höhe zu zahlen oder den entgangenen Gewinn aus dem zu Unrecht erhaltenen Geld zu ersetzen, das der Empfänger bei ordnungsgemäßer Bewirtschaftung hätte erhalten können.
  • Anders als bei einem Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung muss bei der Rückforderung des überbezahlten Betrages nach den Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung keine Schuld des Beklagten (Verkäufers) festgestellt werden.


Fazit

Die andere Vertragspartei kann sich darauf berufen, dass das marktbeherrschende Unternehmen ihr durch den Abschluss des Vertrags einen unangemessen hohen Verkaufspreis auferlegt und damit gegen das Verbot un­fairer Bedingungen verstoßen hat, wodurch ihr ein Schaden entstanden ist.

Der von der Gegenpartei geltend gemachte Schaden muss vom Schutzzweck der jeweiligen Schutznorm erfasst sein. Es reicht aus, wenn der Beklagte gegen eine der Schutznormen verstoßen hat. Als Zweck des Verbots unfairer Bedingungen gilt auch, denjenigen, der ein Geschäft mit einem marktbeherrschenden Unternehmen abgeschlossen hat, vor dem Schaden zu schützen, der sich aus der Differenz zwischen einem angemessenen und einem unfairen Preis ergibt. Die andere Vertragspartei kann wählen, ob sie die Rückforderung nach den Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung oder den Ersatz des Schadens aus unerlaubter Handlung geltend macht.

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