Von der Theorie zur Praxis: Lessons Learned aus der Erstumsetzung der doppelten Wesentlichkeitsanalyse

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​​​veröffentlicht am 11. Dezember 2024 I Lesedauer ca. 5 Min.

Mit dem Ziel, sowohl die finanziellen Effekte im Zusammenhang mit Nachhaltigkeits­aspekten (Financial Materiality) als auch die sozialen und ökologischen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit (Impact Materiality) zu verstehen, sind Unternehmen durch die ESRS zur Durchführung einer doppelten Wesentlichkeitsanalyse verpflichtet. Die Ergebnisse der doppelten Wesentlichkeitsanalyse legen die Berichtsinhalte fest und stellen somit den zentralen Ausgangspunkt im Prozess zur Erstellung eines CSRD-konformen Nachhaltigkeitsberichts dar. Dies bringt Herausforderungen in der praktischen Umsetzung mit sich und erfordert ein grundlegendes Umdenken in der Datenanalyse sowie im Berichtswesen. 

Im Jahr 2024 haben zahlreiche (künftig) berichtspflichtige Unternehmen erstmals den Prozess der doppelten Wesentlichkeitsanalyse durchlaufen. Was haben diese Unternehmen aus der ersten Umsetzungsphase gelernt? In diesem Artikel fassen wir für Sie zentrale „Lessons Learned“ und Best Practices zur doppelten Wesentlich­keitsanalyse zusammen. 

Schritt 1: Festlegung des Scopes und Analyse des Unternehmenskontexts

Was ist zu tun?

Zu Beginn sollte das Unternehmen seinen Kontext analysieren und verstehen. Hierzu gehören beispielsweise seine Aktivitäten, Wertschöpfungsketten, Stakeholder, Geschäftsbeziehungen, geografischen Verhältnisse oder regulatorischen Anforderungen. Die Erkenntnisse aus dieser Phase helfen dabei, den übergeordneten Rahmen für die weiteren Schritte festzulegen und eine zielgerichtete Ermittlung der für das individuelle Unternehmen wesentlichen Auswirkungen, Risiken und Chancen zu ermöglichen. Idealerweise wird in diesem Schritt auf Basis der Stakeholderanalyse bereits festgelegt, wann und wie die Stakeholder einbezogen werden.

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​Die frühzeitige Festlegung und Einbindung von Stakeholder-Experten steigert die Effizienz und fördert die Kooperationsbereitschaft in späteren Projektphasen.
  2. Der Zeit- und Arbeitsaufwand hängt stark von der Struktur des Unternehmens sowie der Komplexität der Wertschöpfungskette ab – ein ausführliches und robustes Scoping erleichtert die Definition von Arbeitspa­keten und Verantwortlichkeiten.
  3. Die frühzeitige Abstimmung mit dem Prüfer über die konkrete geplante Vorgehensweise bei der Durchfüh­rung der Wesentlichkeitsanalyse beugt Verzögerungen im späteren Prüfungsprozess vor.
  4. Eine systematische Bestandsaufnahme der implementierten Maßnahmen im Bereich ESG und der vorhandenen Stakeholderdialogformate kann als sinnvoller Input für spätere Projektphasen dienen.

Schritt 2: Erstellung der Longlist potenziell relevanter Nachhaltigkeitsaspekte​

Was ist zu tun?

Die Longlist dient als Ausgangspunkt für die weitere Analyse der Wesentlichkeit der Nachhaltigkeitsaspekte in den nachfolgenden Schritten. Bei der Zusammenstellung der Liste potenziell relevanter Nachhaltigkeitsaspekte als Grundlage für die Identifizierung von Auswirkungen, Risiken und Chancen muss das Unternehmen die Liste der Nachhaltigkeitsaspekte in ESRS 1 AR 16 berücksichtigen. Darüber hinaus sind Überlegungen zu zusätz­lichen unternehmens- und branchenspezifischen Nachhaltigkeitsaspekten anzustellen. Diese müssen in die Liste aufgenommen werden, wenn das Unternehmen zu dem Schluss kommt, dass es bestimmte Aspekte für relevant hält, diese aber nicht hinreichend durch die Liste in ESRS 1 AR 16 abgedeckt werden.

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​Bei der Identifikation zusätzlicher branchen- und unternehmensspezifischer Themen ist auf eine saubere Trennung zwischen ESG-bezogenen Themen und Themen, die eher in der Finanzberichterstattung zu verorten sind (z.B. wirtschaftlicher Unternehmenserfolg), zu achten.
  2. Zusätzlich identifizierte branchen- oder unternehmensspezifische Themen sind häufig bereits durch bestimmte (Sub-)Sub-Themen der ESRS 1 AR 16-Liste abgedeckt (z.B. Produktsicherheit, das unter S4 verortet werden könnte) – ein kritischer Abgleich der zusätzlich identifizierten Themen mit der ESRS 1 AR 16-Liste sowie ein genauerer Blick in die ESRS-Datenpunktliste der EFRAG können dazu beitragen, ineffiziente Dopplungen zu vermeiden.

Schritt 3: Identifikation der nachhaltigkeitsbezogenen Auswirkungen, Risiken und Chancen​

Was ist zu tun?

Im Rahmen der Wesentlichkeitsanalyse werden nicht nur potenziell wesentliche Nachhaltigkeitsaspekte, sondern die konkret damit verbundenen spezifischen nachhaltigkeitsbezogenen Auswirkungen, Risiken und Chancen (IROs) systematisch identifiziert. Hierbei müssen sowohl die vor- und nachgelagerte Wertschöp­fungs­kette des Unternehmens als auch der Zeithorizont, in dem die IROs voraussichtlich eintreten werden, berück­sichtigt werden. Der Begriff „Auswirkungen” kann sich sowohl auf positive als auch auf negative sowie auf tatsächliche und potenzielle Auswirkungen beziehen. Weiterhin muss das Unternehmen prüfen, wie es durch seine Abhängigkeiten von der Verfügbarkeit natürlicher, menschlicher und sozialer Ressourcen zu angemesse­nen Preisen und in angemessener Qualität beeinflusst wird. Aus diesen Abhängigkeiten können ebenso wie aus Auswirkungen finanzielle Risiken und Chancen im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsaspekten resultieren. 

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​Zur Erfüllung der ESRS-Anforderungen müssen in jedem Fall konkrete IROs identifiziert werden, eine Identifikation und Bewertung auf Ebene der Nachhaltigkeitsaspekte ist nicht ausreichend.
  2. Insbesondere positive Auswirkungen sollten immer kritisch hinterfragt werden: Handelt es sich tatsächlich um eine positive Auswirkung auf Mensch und Umwelt oder eher um eine Maßnahme gegen eine negative Auswirkung?
  3. Die Klassifizierung der IROs in positive/negative und potenzielle/tatsächliche Auswirkungen bzw. Risiken und Chancen sollte sauber dokumentiert und in einer Reviewschleife validiert werden – hiervon hängen die später anzuwendenden Bewertungskriterien ab.
  4. Unterschiedliche Formate und Optionen zur Einbindung der Stakeholder oder Stakeholder-Experten sind möglich. Es sollte aber in jedem Fall sichergestellt werden, dass die Perspektiven der identifizierten relevanten Stakeholder hinreichend vertreten sind. Hierbei gilt der Grundsatz „Qualität vor Quantität“.

Schritt 4: Bewertung der nachhaltigkeitsbezogenen Auswirkungen, Risiken und Chancen

Was ist zu tun?

Die Bewertung der identifizierten Auswirkungen, Risiken und Chancen ist notwendig, um zu bestimmen, welche Nachhaltigkeitsaspekte für das Unternehmen wesentlich sind. Die anzuwendenden Bewertungsfaktoren unterscheiden sich je nach IRO-Art: Negative Auswirkungen werden nach ihrem Schweregrad bewertet, der sich aus den drei Faktoren Ausmaß, Umfang und Unabänderlichkeit zusammensetzt. Bei positiven Auswir­kun­gen werden die Faktoren Ausmaß und Umfang verwendet, bei potenziellen positiven oder negativen Auswir­kungen wird zusätzlich die Eintrittswahrscheinlichkeit in die Bewertung einbezogen. Risiken und Chancen werden anhand einer Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit und potenziellem Ausmaß der finanziellen Effekte bewertet. Die ESRS enthalten keine spezifischen Leitlinien für die Definition von Skalen, diese sollten jedoch vorzugsweise auf der Grundlage quantitativer Informationen festgelegt werden. Da sich dies in der Praxis allerdings oft schwierig gestaltet, ist auch die Verwendung qualitativer Skalen zulässig. Im Zuge der Bewertung legt das Unternehmen weiterhin geeignete Schwellenwerte fest, um die wesentlichen IROs abzuleiten.

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​Für jedes IRO sollten die jeweils anwendbaren Bewertungsfaktoren einzeln bewertet werden (z.B. Umfang, Ausmaß, Unabänderlichkeit). Eine aggregierte Bewertung (z.B. des Schweregrads) verschleiert wichtige Informationen und erschwert die Nachvollziehbarkeit.
  2. Skalen für die finanzielle Wesentlichkeit sollten, wenn möglich, aus dem finanziellen Risikomanagement übernommen werden. Eine Harmonisierung des Bewertungsschemas erleichtert die Integration der nach­hal­tig­keits­bezo­genen Risiken und Chancen in das bestehende Risikomanagement.
  3. Eine zusätzliche Validierungs­​schleife derjenigen IROs, die sich knapp an der Grenze zur Wesentlichkeit befinden, erhöht die Prüfsicherheit und sollte die Anforderung des ESRS 1 AR 11 berücksichtigen („Jedes der drei Merkmale – Ausmaß, Umfang und Unabänderlichkeit – kann eine negative Auswirkung schwerwiegend machen. Im Falle möglicher negativer Auswirkungen auf die Menschenrechte hat der Schweregrad der Auswirkungen Vorrang vor ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit“).
  4. Auch hier sind unterschiedliche Formate und Optionen zur Einbindung der Stakeholder oder Stakeholder-Experten möglich – dieser Schritt eignet sich auch besonders gut für eine strukturierte Einbindung der Tochtergesellschaften.

Schritt 5: Ableitung der wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekte​

Was ist zu tun?

Die wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekte ergeben sich aus den zugehörigen wesentlichen IROs. Für eine zielgerichtete Ableitung der wesentlichen Datenpunkte ist die Zusammenstellung der wesentlichen Nach­hal­tig­keits­​aspekte auf Ebene der Unterthemen bzw., falls vorhanden, der Unterunterthemen zu empfehlen. Das Unternehmen muss hierbei sicherstellen, dass durch die Aggregation der Informationen von verschiedenen Ebenen oder von mehreren Standorten keine wesentlichen Informationen verloren gehen. 

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​In Bezug auf die Darstellung der wesentlichen Themen machen die ESRS keine konkreten Vorgaben – die verschiedenen Optionen (z.B. Matrix, Liste) unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Informationsgehalts.
  2. Wird einem (Sub-/Sub-Sub-)Thema mindestens ein wesentliches IRO zugeordnet, so ist das (Sub-/Sub-Sub-)Thema wesentlich.

Schritt 6: Ableitung der wesentlichen Datenpunkte

​Was ist zu tun?

Nach der Identifikation der wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekte erfolgt die Ableitung der wesentlichen ESRS-Datenpunkte und damit die Konkretisierung der Berichtsinhalte. Hierbei ist es wichtig, nur die tatsächlich wesentlichen Datenpunkte für die Berichterstattung herauszufiltern – unter Berücksichtigung verpflichtender Angaben, die unabhängig von der Wesentlichkeit offengelegt werden müssen. Auf Basis der abgeleiteten Datenpunkte kann dann im nächsten Schritt eine detaillierte Gap-Analyse erfolgen.

Welche „Lessons Learned“ lassen sich aus der Erstumsetzung ziehen?

  1. ​​Zur Ableitung der wesentlichen Datenpunkte kann die EFRAG-Datenpunktliste (IG 3) herangezogen werden.
  2. Ein Blick in die Übergangsvorschriften für bestimmte Angabepflichten (ESRS 1 Anlage C) kann sich lohnen, um den Arbeitsaufwand im ersten Berichtsjahr zu reduzieren.
  3. Mithilfe des Entscheidungsbaums in ESRS 1 Anlage E können nicht wesentliche Datenpunkte aussortiert werden.
  4. Angabepflichten in den themenspezifischen Standards, die in Verbindung mit ESRS 2 IRO-1 stehen, müssen unabhängig von den Ergebnissen der Wesentlichkeitsanalyse ebenso wie einschlägige Datenpunkte des ESRS 2 immer berichtet werden.

Fazit: Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse als Grundlage für eine zukunftsfähige Berichterstattung

Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse ist mehr als eine formale Anforderung – sie bildet den strategischen Kern eines CSRD-konformen Nachhaltigkeitsberichts. Unternehmen sind in der Pflicht, finanzielle, unternehmens­politische, soziale und ökologische Aspekte ihrer Geschäftstätigkeit tiefgreifend zu durchleuchten und faktenbasiert zu bewerten. Die ersten Umsetzungen im Jahr 2024 haben gezeigt, dass dieser Prozess sowohl Herausforderungen als auch Chancen bietet. Insbesondere ein klar strukturiertes Vorgehen, die frühzeitige Einbindung relevanter Stakeholder und des Prüfers sowie die iterative Verbesserung des Prozesses und systematische Validierung der Ergebnisse fördern die Effizienz und Qualität der Analyse.​
 
Ein zentraler Erfolgsfaktor bleibt die Anpassungsfähigkeit: Unternehmen sollten die gewonnenen Erkenntnisse gezielt nutzen, um Strategien, Prozesse und Methoden für zukünftige Berichtszyklen weiterzuentwickeln. So wird die doppelte Wesentlichkeitsanalyse nicht nur zur Erfüllung regulatorischer Anforderungen, sondern auch zu einem Treiber für nachhaltige Transformation.

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