Insolvenzrecht in den baltischen Staaten – effizientes Krisenmanagement als „Rettungsweste”

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  • In den vergangenen Jahren war das Insolvenzrecht in den baltischen Staaten etlichen Anpassungen unterworfen.
  • Insolvenzen in den baltischen Staaten führen häufig zu einer Lose-Lose-Situation – ausgelöst durch eine in der Regel unzureichende Befriedigung der Insolvenzgläubiger.
  • Ein effizientes Krisenmanagement in einem frühen Stadium kann in vielen Fällen eine Insolvenzsituation verhindern.
​Seit dem Beitritt von Estland, Lettland und Litauen zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 ist die Europäische Insolvenzverordnung (EG) 1346/2000 in Estland, Lettland und Litauen direkt anwendbar. Allerdings bestimmt die europäische Verordnung nur, welche Gerichte der Mitgliedstaaten zuständig sind. Die europäische Harmonisierung auf dem Gebiet des Insolvenzrechts ist bisher eher unterentwickelt, daher bestehen auf nationaler Ebene erhebliche rechtliche Unterschiede.

 

In allen drei baltischen Staaten wurde in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von gesetzlichen Änderungen vorgenommen, um die Effizienz von Insolvenzverfahren zu erhöhen.

 

Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Rechtssysteme Estlands, Lettlands und Litauens und die damit verbundenen Risiken – für insolvente Unternehmen, deren Geschäftsführer und deren Gläubiger.

 

Arten von Insolvenzverfahren

In Estland besteht eine Insolvenz nur dann, wenn die dauerhafte Unfähigkeit eines Schuldners, die Forderungen seiner Gläubiger zu erfüllen, durch eine gerichtliche Entscheidung festgestellt wurde. Eine Insolvenzantragspflicht gilt für:
  • Kapitalgesellschaften
  • Personengesellschaften

 

In Lettland umfasst der Begriff der Insolvenz lediglich ein Verfahren, welches die Liquidation der Gesellschaft zur Folge hat. Sanierungs- oder Umstrukturierungsverfahren werden dagegen nicht als Insolvenzverfahren, sondern als Umstrukturierung bezeichnet. Eine Insolvenzantragspflicht gilt für:
  • Kapitalgesellschaften
  • Personengesellschaften
  • Einzelunternehmer

 

In Litauen kann das Insolvenzverfahren gerichtlich (formal) oder nicht-gerichtlich (nicht formal) ablaufen, zudem kann in einigen Fällen ein vereinfachtes Insolvenzverfahren eingeleitet werden.

Umstrukturierungsverfahren sind ebenfalls möglich. Grundsätzlich sind alle Gesellschaftsformen – von Kapital- bis Personengesellschaften – als auch Einzelunternehmer der Insolvenzpflicht unterworfen. Ausnahmen gelten für Behörden, Gewerkschaften, politische Parteien und religiöse Vereinigungen, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden.
 

Insolvenzantragsteller

In Estland muss der insolvente Schuldner Insolvenz anmelden. Der Unternehmensvorstand ist zu einer Insolvenzanmeldung innerhalb von 20 Tagen nach der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft verpflichtet. Wird der Insolvenzantrag vom Schuldner eingereicht, vermutet das Gericht in der Regel die Insovlvenz. Wird der Insolvenzantrag von einem Gläubiger eingereicht, muss dieser die Insolvenz begründen und einen Nachweis für seine Forderung vorlegen. Sofern der Antragsteller einen Antrag auf Umstrukturierung gestellt hat, wird zunächst ein Umstrukturierungsverfahren durch eine gerichtliche Entscheidung eingeleitet.

Nach lettischem Recht kann das Insolvenzverfahren durch den Schuldner, einen Gläubiger (oder eine Gruppe von Gläubigern), einen Insolvenzverwalter in der Umstrukturierung und einen Liquidator im eigentlichen Insolvenzverfahren eingeleitet werden.

Ein gerichtlicher Insolvenzantrag kann nach litauischem Recht bei Gericht durch folgende Beteiligte eingereicht werden:
  • einen Gläubiger/eine Gläubigergruppe
  • den Eigentümer/die Eigentümer des Schuldners
  • den Geschäftsführer des Schuldners

 

Wenn eine Insolvenz in Litauen auf nicht-gerichtliche Weise eingeleitet wird, hat das Gericht keine Rechtsbefugnis, die Entscheidungen der Gläubiger zu revidieren. Die Gläubiger haben damit die vollständige Kontrolle über das Insolvenzverfahren. Ein nicht-gerichtliches Insolvenzverfahren wird per Beschluss der Gläubiger mit qualifizierter Dreiviertelmehrheit eingeleitet. Ein vereinfachtes Insolvenzverfahren wird vom Gericht eingeleitet, wenn der Schuldner nicht über ausreichende Vermögenswerte verfügt, um die Kosten des Insolvenzverfahrens zu decken. Das Verfahren dauert in diesem Fall nicht mehr als ein Jahr ab dem Zeitpunkt der Einleitung des vereinfachten Verfahrens. Das Umstrukturierungsverfahren zielt darauf ab, Unternehmen mit finanziellen Schwierigkeiten, die ihre wirtschaftlichen und geschäftlichen Tätigkeiten noch nicht eingestellt haben, die Möglichkeit zu geben, diese weiterzuführen, um ihre Schulden zu begleichen und eine Insolvenz zu vermeiden. Nur der Schuldner und seine Anteilseigner können eine Umstrukturierung beantragen.
 

Bestehen einer Insolvenzsituation

Die Gesetze in den baltischen Staaten sehen unterschiedliche Definitionen des Zeitpunktes vor, in dem ein Insolvenzantrag gestellt werden muss (sog. Insolvenzsituation). Insolvenz in Estland, Lettland und Litauen liegt jeweils vor, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

 

Estland:

  • eine Aktiengesellschaft hat ihre Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 12.500 Euro nicht beglichen

  • sonstige Kapital- und Personengesellschaften haben ihre Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 2.500 Euro nicht beglichen

  • eine natürliche Person oder eine zuvor nicht genannte juristische Person hat ihre Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 1.000 Euro nicht beglichen

  • die Vollstreckung eines Titels ist innerhalb des letzten Jahres ohne Erfolg geblieben

  • der Gläubiger hat die Zahlungsunfähigkeit begründet und seine Forderung nachgewiesen

  • Zahlungsunfähigkeit wird beispielsweise dann angenommen, wenn der Schuldner mit der Erfüllung einer Verbindlichkeit mehr als 30 Tage in Verzug ist und trotz Androhung einer Insolvenz nicht innerhalb von 10 Tagen erfüllt

 

Lettland:

  • die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung ist wegen Vermögenslosigkeit unmöglich

  • Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung haben ihre Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 4.268 Euro nicht beglichen

  • ein ausländisches Unternehmen, eine Personengesellschaft oder ein Einzelunternehmer haben ihre Schulden in einer Gesamthöhe von von mehr als 2.134 Euro nicht beglichen

  • das Unternehmen ist nicht imstande, die Löhne an seine Arbeitnehmer zu zahlen (oder andere das Arbeitsverhältnis betreffende Zahlungen zu leisten)

  • der Schuldner hat seine fälligen Schulden seit mehr als zwei Monaten nicht beglichen

  • ein Gericht erklärt ein laufendes Umstrukturierungsverfahren für gescheitert und eröffnet die Insolvenz

 

Litauen:

  • verspätete Zahlung von Löhnen und verspätete Erfüllung von anderen Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis

  • verspätete Zahlungen für Waren oder Dienstleistungen oder die allgemeine Nichterfüllung von Forderungen

  • unterlassene Steuerzahlungen

  • es ist aufgrund von Vermögenslosigkeit nicht möglich, Forderungen einzutreiben

  • das Gericht eröffnet das Verfahren, falls mindestens eine der zuvor genannten Voraussetzungen vorliegt

  • mindestens 30 Kalendertage vor Stellung des Insolvenzantrages muss der Schuldner schriftlich per Einschreiben hierüber informiert werden (dem Schuldner wird auf diese Weise die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb dieser Frist die Forderungen zu erfüllen und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abzuwenden)

 

Der Insolvenzverwalter

In Estland können nur lizenzierte Mitglieder der Gerichtsvollzieher- und Insolvenzverwalterkammer Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren sein. 

Das lettische Insolvenzrecht wurde 2016 mit dem Ziel geändert, die beruflichen Anforderungen an Insolvenzverwalter zu verbessern und die Transparenz hinsichtlich Prüfung und berufliche Qualifikationen von Insolvenzverwaltern zu erhöhen. Einige Änderungen werden gemäß den Übergangsregelungen des lettischen Insolvenzgesetzes nur schrittweise umgesetzt. In Lettland ist Insolvenzverwalter ein reglementierter Beruf. Bisher wurden Insolvenzverwalter von der Kammer zertifizierter Insolvenzverwalter lizenziert. Durch die Gesetzesänderung werden Insolvenzverwalter nicht mehr zertifiziert, sondern stattdessen in eine Liste aufgenommen. Nach Ernennung sind sie ab 1. Juni 2017 verpflichtet, zweimal jährlich eine Qualifikationsprüfung abzulegen. Gemäß den Übergangsregelungen sind Insolvenzverwalter, denen gemäß den bisherigen Regeln bereits Bescheinigungen ausgestellt wurden, auch weiterhin zur Ausübung ihrer Tätigkeit berechtigt.

In Litauen ist Insolvenzverwalter ebenfalls ein reglementierter Beruf. Um Insolvenzverwalter zu werden, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden (d. h. erforderliche Ausbildung, Qualifikationsprüfung, Berufsunfähigkeitsversicherung, guter Ruf usw.). Seit dem 1. Januar 2015 werden Insolvenzverwalter für ein Verfahren jeweils per Zufallsgenerator ausgewählt, wobei Größe und Tätigkeiten des Schuldners sowie Berufserfahrung, Zahl der verwalteten Insolvenzen und Referenzen des Insolvenzverwalters berücksichtigt werden.
 

Anfechtung von Rechtsgeschäften

In Estland kann der Insolvenzverwalter die Beteiligten eines dem Schuldner vorsätzlich Schaden zufügenden Rechtsgeschäfts auf Schadensersatz verklagen. Geschäfte sind zudem anfechtbar, wenn durch sie eine Schädigung der Gläubiger herbeigeführt wurde und:
  • innerhalb eines Jahres vor der Ernennung des vorläufigen Insolvenzverwalters stattfanden, wenn der Vertragspartei bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, dass das Rechtsgeschäft die Interessen der Gläubiger beeinträchtigt
  • innerhalb eines Jahres vor der Ernennung des vorläufigen Insolvenzverwalters stattfanden, wenn der Schuldner wusste, dass er die Interessen der Gläubiger verletzt und die andere Partei davon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen
  • innerhalb von fünf Jahren vor der Ernennung des Insolvenzverwalters stattfanden und der Schuldner wusste, dass er den Interessen der Gläubiger Schaden zufügt und die Vertragspartei mit dem Schuldner verbunden war und wusste oder hätte wissen müssen, dass das Rechtsgeschäft die Interessen der Gläubiger beeinträchtigt

 

In Lettland ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, vor Gericht die Gültigkeit eines Vertrages zu bestreiten, der abgeschlossen wurde:
  • innerhalb einer Frist von vier Monaten vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, wenn das Rechtsgeschäft dem Schuldner einen Schaden zugefügt hat
  • drei Jahre vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, wenn die andere Vertragspartner wusste oder hätte wissen müssen, dass das Rechtsgeschäft dem Schuldner einen Schaden zufügt

 

Insbesondere ist vom Insolvenzverwalter in Lettland Folgendes zu prüfen und gegebenenfalls anzufechten:
  • Rechtsgeschäfte ohne Gegenleistung nach oder drei Jahre vor der Insolvenzeröffnung
  • Pfandverträge, die nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens geschlossen wurden

 

In Litauen muss der Insolvenzverwalter alle Rechtsgeschäfte, die innerhalb von mindestens 3 Jahren vor der Insolvenz stattfanden, überprüfen. Gegen die Ziele der Geschäftstätigkeit verstoßende Geschäfte, die zur Insolvenz beigetragen haben, müssen angefochten werden. Wenn das Insolvenzgericht feststellt, dass die Insolvenz betrügerisch herbeigeführt wurde, muss der Insolvenzverwalter alle Rechtsgeschäfte, die innerhalb von 5 Jahren vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens geschlossen wurden, überprüfen.

 

Haftung des Geschäftsführers

In allen drei baltischen Staaten sind Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder für bestimmte Handlungen oder Nichthandlungen im und vor Einleitung eines Insolvenzverfahrens haftbar.

In Estland müssen die Vorstandsmitglieder das Unternehmen für Zahlungen, die nach der Insolvenzeröffnung nicht mit Sorgfalt durchgeführt wurden, gesamtschuldnerisch entschädigen. 

Die Vorstandsmitglieder eines Schuldners in Lettland haften gesamtschuldnerisch gegenüber dem Schuldner, wenn dessen Buchführungsdokumente nicht rechtzeitig dem Insolvenzverwalter übergeben wurden oder wenn sie in einem solchen Zustand sind, dass sie keine klare Sicht auf die Geschäfte des Schuldners und auf seinen Vermögensstatus in den letzten drei Jahren vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geben.

Wenn ein Geschäftsführer in Litauen seine Verpflichtung zur rechtzeitigen Einreichung des Insolvenzantrags nicht erfüllt, muss dieser die Gläubiger für alle Schäden, die sich aus der Verspätung ergeben, entschädigen.

Darüber hinaus werden in allen drei Staaten für nachweislich vorsätzlich herbeigeführte Insolvenzen Sanktionen verhängt, wie Haftstrafen, Geldstrafen oder der Entzug des Rechts zur Durchführung bestimmter oder aller Arten von kommerziellen Tätigkeiten für eine bestimmte Zeit.
 

Fazit

In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von Rechtsänderungen in allen drei baltischen Staaten vorgenommen. Die meisten dieser Änderungen zielten darauf ab, das Problem des geringen öffentlichen Vertrauens im Hinblick auf die Transparenz im Insolvenzverfahren anzugehen. Doch konnte durch diese Änderungen die vielfach bestehende Sekpsis nicht gänzlich ausgeräumt werden. Fragen der Ineffektivität und mangelnden Transparenz solcher Verfahren hat auch die Aufmerksamkeit ausländischer Investoren geweckt. Gläubiger, vor allem Banken, befürchten, dass ihre Interessen systematisch durch bestimmte Insolvenzverwalter verletzt werden. Es sind diese Anliegen, welche die jüngsten Änderungen in der Regulierung der Tätigkeit von Insolvenzverwaltern begründen – Änderungen, die speziell dazu dienen sollen, die Rolle der staatlichen Institutionen und ihre Kontrollmöglichkeiten zu stärken. Hier muss Litauen hervorgehoben werden: 2015 wurde ein EDV-gestütztes Programm eingeführt, das Insolvenzverwalter für Insolvenzverfahren auf Grundlage objektiver Einzelfall-Kriterien per Zufall auswählt.

Jedoch bleibt weiterhin der niedrige Output für die Gläubiger das größte Problem. Zu oft lösen Insolvenzen eine Lose-Lose-Situation aus. Umso wichtiger ist es, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um eine Insolvenz zu vermeiden.

Extreme finanzielle Schwierigkeiten – das Stadium, das einer Insolvenzsituation vorausgeht – können durch eine genaue Finanzprognose vorausgesehen und abgemildert werden. Die richtige Bewertung von Prüfungsberichten und die Beachtung von Warnungen von Banken oder staatlichen Institutionen können zur Vermeidung gefährlicher Situationen beitragen. In den meisten Fällen stellen unentdeckte Risiken die größte Bedrohung dar. Interne oder externe Wirtschaftsprüfungen können für eine Insvolvenzverhinderung von Nutzen sein, da sie durch genaue Überprüfung von Abschlüssen rechtzeitig Alarm schlagen können.

Aber auch wenn Risiken erst zu einem späteren Zeitpunkt erkannt werden, ist nicht alle Hoffnung verloren. Das Schlagwort lautet: Krisenmanagement. Es gibt mehrere Möglichkeiten des Krisenmanagements: Reorganisation durch eine Verschmelzung oder Spaltung oder Verhandlungen mit Gläubigern sind nur einige Lösungsmöglichkeiten. Diese Art des Schutzes ist sowohl für die Unternehmensleitung als auch für Investoren oder Gläubiger entscheidend.

Als Experte für grenzüberschreitende Insolvenzfragen kann Rödl & Partner Ihnen dabei helfen, Risiken frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig auf alle drängenden Fragen zu reagieren.

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