Aktuelle Rechtsprechung zur Zu­sam­mensetzung des SE-Auf­sichts­rats nach dem „Soll-Zustand“

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veröffentlicht am 13. Januar 2021 | Lesedauer ca. 6 Minuten


Das Oberlandesgericht (OLG) München hat in drei parallelen Beschlüssen vom 26. März 2020 (Az. 31 Wx 278/18, 31 Wx 279/18 und 31 Wx 280/18) zu der nach deutschen Mitbestimmungsgrundsätzen rechtmäßigen Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer dualistisch aufgebauten Societas Europaea (SE - Europäische Aktiengesellschaft) Stellung genommen. In den vorgelegten Fällen wurde die SE jeweils durch form­wechselnde Umwandlung einer deutschen Aktiengesellschaft (AG) gegründet. Das Gericht stellte fest, dass die Zusammensetzung des Aufsichtsorgans bei den zugrunde gelegten Vorgängen so zu wählen ist, wie sie vor dem Umwand­lungs­vorgang – mitbe­stimmungs­recht­lich korrekt – zu bilden gewesen wäre. Maßstab ist der sog. „Soll-Zustand”, nicht der „Ist-Zustand”, jedenfalls soweit zu diesem Zeitpunkt ein Status­verfahren gemäß § 98 AktG hätte eingeleitet werden können. Dazu muss bereits Streit oder zumindest Ungewissheit über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestanden haben.


Die Gesellschaft kann in einer solchen Konstellation auch nicht durch eine Beteiligungsvereinbarung mit den Arbeitnehmern eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat frei regeln, die nicht dem sog. Vorher-Nachher-Prinzip gemäß § 21 Abs. 6 SEBG entspricht. Eine solche Regelung wäre in dem Punkt unwirksam. An ihre Stelle träte die gesetzliche Auffanglösung gemäß § 35 Abs. 1 SEBG.



Kernpunkte des Sachverhalts

Der Beschwerdeführer ist Aktionär der jeweils durch Rechtsformwechsel einer AG entstandenen SE. Die SE wurde zuvor in der Rechtsform einer deutschen AG geführt, deren Aufsichtsrat in der Vergangenheit ausschließlich mit Aktionären besetzt war. Der Beschwerdeführer hat mehrere Jahre nach der Eintragung der jeweiligen Umwandlung das sog. „Statusverfahren” gemäß § 98 Abs. 1 AktG zur gerichtlichen Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats beantragt. In den Umwandlungsverfahren wurden mit den Arbeitnehmern jeweils Beteiligungsvereinbarungen geschlossen, die jedoch keine Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat vorsahen.

In den jeweiligen Verfahren konnte das OLG München aufgrund fehlender Informationslage nicht endgültig entscheiden, ob zum Zeitpunkt der Umwandlung das Drittelbeteiligungsgesetz bzw. Mitbestimmungsgesetz Anwendung gefunden hat. Die Verfahren wurden zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das jeweils vorbefasste Landgericht München zurückverwiesen.

Das OLG München hat dabei die Ansicht vertreten, dass an den gebotenen Soll-Zustand anzuknüpfen sei, und das nicht nur bei der sog. „gesetzlichen Auffangregelung” gemäß §§ 34 ff. SEBG, sondern auch wenn eine Beteiligungsvereinbarung mit den Arbeitnehmern gemäß § 21 SEBG vereinbart wird.


Rechtlicher Hintergrund

Eine AG deutschen Rechts trifft den maßgeblichen Schwellenwert der deutschen Mitbestimmungsvorschriften nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG), wenn i.d.R. mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt sind, und nach dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG), wenn auch die Grenze von 2.000 Arbeitnehmern überschritten ist. Gleiches gilt für den Fall einer deutschen GmbH. Nach herrschender Meinung ist dabei nur auf im Inland beschäftigte Arbeitnehmer abzustellen, wobei ein Prognosezeitraum heranzuziehen ist. Werden diese maßgeblichen Schwellenwerte überschritten, ist der Anwendungsbereich der deutschen Mitbestimmungs­vorschriften eröffnet und in der Folge grundsätzlich ein Aufsichtsrat zu bilden, der mit Arbeitnehmern zu besetzen ist.

Wird das in der AG nicht umgesetzt und schließlich der Weg in eine SE gewählt, stellt sich die Frage der korrekten Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Aus welchem Grund?

Die SE gilt als grundsätzlich mitbestimmungsfrei – d.h. insbesondere die nationalen Mitbestimmungsvor­schriften finden keine Anwendung. Auf der anderen Seite dürfen Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer nicht durch den Gang in die SE entzogen werden, d.h. eine „Schlechterstellung” der Arbeitnehmerrechte wird nicht geduldet. Voraussetzung für die Eintragung der SE in das Handelsregister ist daher die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens. Das endet mit dem Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung zwischen dem Leitungsorgan der SE und dem eigens dafür zu bildenden besonderen Verhandlungsgremium (BVG). Inhalt der Beteiligungsvereinbarung sind die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer. An dem Punkt stellt sich die Frage, welches Mitbestimmungsniveau zu berücksichtigen bzw. zu überführen ist. Ist es das Niveau, das in der alten Gesellschaft tatsächlich gelebt wurde (Ist-Zustand) oder das, das hätte gelebt werden müssen (Soll-Zustand)? Gelingt es den Parteien aufgrund von Diskrepanzen nicht, eine vorrangige Beteiligungs­vereinbarung abzuschließen, greifen Auffangregelungen über die Mitbestimmung kraft Gesetzes (§§ 34 ff. SEBG).

Ergibt sich aus den Verhandlungen die Perpetuierung eines mitbestimmungsrechtswidrigen Ist-Zustands im SE-Aufsichtsrat, stellt sich zusätzlich die Frage, inwiefern die Beteiligungsvereinbarung diesen mitbestimmungs­losen Zustand „einfrieren” kann und unter welchen Voraussetzungen eine Korrektur auf den Soll-Zustand noch möglich ist.

Erst im Juli 2019 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt (BGH, Beschluss vom 23. Juli 2019 – Az. II ZB 20/18). Im Unterschied zum OLG München wurde das sog. „Status­verfahren” gemäß § 98 Abs. 1 AktG noch vor der Eintragung der Umwandlung beantragt. Der BGH stellte fest, dass jedenfalls dann, wenn ein Statusverfahren noch vor Eintragung der Umwandlung eingeleitet wurde, dieser tatsächliche Umstand für die Gesellschaft prägend ist und der bis dato praktizierten Regelung ihre Verbindlichkeit nimmt. Eine Korrektur des Status quo werde damit eröffnet.

Die grundsätzliche Frage der Anwendung von Ist- oder Soll-Zustand ließ der BGH in dem Fall jedoch offen, weshalb den betreffenden Beschlüssen des OLG München besondere Bedeutung zukommt.


Die Beschlüsse

In den konkreten Fällen galt es zu beurteilen, ob bzw. inwieweit die jeweils zwischen dem Vorstand der AG und dem BVG abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung wirksam war. Sie besagte, dass das Aufsichtsorgan nicht mit Arbeitnehmern zu besetzen sei. Das OLG München hat als Entscheidungsgrundlage festgestellt, dass es nicht darauf ankommt, ob der Aufsichtsrat im Zeitpunkt der Umwandlung tatsächlich bereits mitbestimmt war. Vielmehr sei entscheidend, wie der Aufsichtsrat vor der Umwandlung nach nationalen Vorschriften richtigerweise zusammenzusetzen war (sog. Anknüpfung an den rechtlich gebotenen „Soll-Zustand”).

Der „Soll-Zustand” ist sowohl zu berücksichtigen, wenn eine Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG individuell ausgehandelt wird, als auch dann, wenn Auffangregelungen über die Mitbestimmung kraft Gesetzes nach §§ 34 ff. SEBG greifen.

Das OLG München stellte zusätzlich klar, dass die Anknüpfung an den Soll-Zustand zum Tragen kommt, wenn ein gerichtliches Statusverfahren nach § 98 AktG bereits vor der Umwandlung der SE und deren Eintragung in das Handelsregister eingeleitet wurde.

In den drei beschlussgegenständlichen Fällen wurde das nicht berücksichtigt.

Sofern ein gerichtliches Statusverfahren noch nicht eingeleitet wurde, sollen diese Grundsätze gelten, sodass ein Statusverfahren hätte eingeleitet werden können. Gefordert wird dafür als prägender Umstand, dass zum damaligen Zeitpunkt Streit oder Ungewissheit i.S.d. § 98 AktG bestanden haben muss. Das Gericht befindet, dass Ungewissheit i.S.d. § 98 AktG nicht nur dann vorliegt, wenn der „Vorstand sich selbst nicht sicher ist, nach welchen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, sondern auch wenn der Vorstand sich zwar seiner eigenen Auffassung gewiss ist, jedoch damit rechnet, dass im zeitlichen Nachgang zu seiner Bekanntmachung eine (…) gerichtliche Entscheidung beantragt wird, also die konkrete Möglichkeit künftiger Streitigkeiten besteht.”

So habe der Vorstand bei Zweifeln über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats grundsätzlich ein Wahlrecht. Er kann den Weg der Bekanntmachung gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 AktG gehen oder bei Ungewissheit unmittelbar ein Statusverfahren nach § 98 Abs. 1 AktG anstrengen. Das OLG München weist allerdings in seinen Beschlüssen ausdrücklich darauf hin, dass der Vorstand mit der Eintragung der SE eine gerichtliche Überprüfung über die richtige Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht vereiteln darf, falls sogar bei ihm Zweifel über die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestehen. Damit unterbindet das OLG München eine sog. Flucht aus der Mitbestimmung im Wege der Umwandlung in eine SE.

Die gesetzlich verankerte Möglichkeit des Entzugs der deutschen Mitbestimmungsregelungen und deren Nichtanwendung in der SE wird durch das OLG München explizit anerkannt. Das bestehende Mitbestimmungsstatut kann durch eine Umwandlung in eine SE weiterhin „eingefroren” werden, allerdings nicht ein (bekannter) rechtswidriger Zustand.


Praxishinweis

Der Umgang mit Arbeitnehmerbeteiligungsrechten in der SE wird derzeit wieder stark diskutiert. In dem Zusammenhang zeigen die Beschlüsse des OLG München eine bereits in der Rechtsprechung des BGH ersichtliche Tendenz, den Verhandlungsraum der Beteiligungsvereinbarung zu begrenzen und den Grundsatz der Kontinuität der Mitbeteiligungsverhältnissen zu relativieren, wenn Ist- und Soll-Zustand vor der Umwandlung in eine SE divergieren.

Im Gegensatz zum BGH äußerte sich das OLG München auch über die Möglichkeit der Umsetzung des Soll-Zustands, wenn die Beteiligungsrechte noch nicht durch ein Statusverfahren in Frage gestellt wurden, sondern lediglich „Ungewissheit” besteht. Die gerichtlichen Maßstäbe zum Vorliegen der Ungewissheit i.S.d. § 98 AktG rufen nach unserer Auffassung zur Vorsicht auf. Handelt es sich um eine mittelgroße oder große Kapital­gesellschaft nach § 267 HGB, sind Jahresabschluss und Lagebericht nach § 316 BGB durch einen Abschlussprüfer zu prüfen. Teil dieses Prozesses ist die Abgabe eines internen Prüfungsberichts. Darin ist auf Gesetzesverstöße zwingend hinzuweisen – ausreichend für die Hinweispflicht sind schon ernsthafte Anhaltspunkte für Verstöße. Der Abschlussprüfer bewertet dabei auch die Einhaltung der Mitbestimmungs­rechte, die u.a. auf der Grundlage von Angaben des Vorstands beruht. Es ist anzunehmen, dass Unternehmen, die in das Mitbestimmungsraster fallen, i.d.R. auch prüfungspflichtig sind.

Jedenfalls für diese Fälle muss somit davon ausgegangen werden, dass der Vorstand Kenntnis über die Umstände hat bzw. Zweifel über die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestehen. Damit ist im Zweifel das Merkmal der Ungewissheit i.S.d. § 98 AktG erfüllt. Das könnte nach der aktuellen Rechtslage zu einer erleichterten Anwendbarkeit des Soll-Zustands führen.

Unternehmensleiter und -inhaber sollten deshalb bereits frühzeitig vor dem Erreichen der Schwellen des DrittelbG oder des MitbestG analysieren, ob und ggf. wie eine Umwandlung in die SE mit bzw. ohne Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat unter Beachtung des sog. Vorher-Nachher-Prinzips bei einer gesetzlich zulässigen Strukturierung möglich ist.

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