M&A als Mittel zum Turnaround – Branchen-Update Kunststoffverarbeitung

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Die kunststoffverarbeitende Industrie in Europa beschäftigt ca. 1,5 Millionen Mitarbeiter in 62.000 Unternehmen, von denen die meisten den kleinen und mittleren Unternehmen zuzuordnen sind. Insgesamt werden im europäischen Kunststoffsektor jährliche Umsätze von ca. 350 Mrd. Euro erzielt.
 
​Deutschland ist mit einem Umsatz von rund 37 Mrd. Euro und ca. 300.000 Mitarbeitern der weltweit drittgrößte Kunststoffverarbeiter nach Japan und den USA. Nach einer Analyse der Association of Plastics Manufacturers sind die Hauptabnehmer der Kunststoffindustrie die Verpackungsindustrie (Flaschen, Beutel, Säcke, Kisten), Bauindustrie (Bodenbeläge, Türen, Fenster, Sanitärwaren, Tanks) und Automobilindustrie (Spritzgussteile für den Fahrzeugbau). Zusammen nehmen diese Industrien ca. 69 Prozent der produzierten Menge an Kunststoffartikeln ab. Kunststoffverarbeitende Unternehmen agieren also vorwiegend selbst als Zulieferer des produzierenden Gewerbes.
 

Abb. 1: Anwendungsgebiete von Kunststoff nach Sektoren (Quelle: Association of Plastics Manufacturers)
 
Nach Aussage der Industrievereinigung Kunststoffverpackungen haben in den vergangenen drei Jahren die Verknappung und die Preisexplosion der Rohstoffe insbesondere mittelständische Hersteller von Kunststoffverpackungen vor sehr große Probleme gestellt. Aufgrund des hohen Rohstoffkostenanteils von bis zu 70 Prozent (im Vergleich zu rund 45 Prozent in der allgemeinen Kunststoffverarbeitung laut IMU Institut) erlitten die Kunststoffverpackungsherstelller existenzgefährdende Margenverluste. Infolgedessen kam es auf dem deutschen Markt speziell bei Verpackungsherstellern zu Konsolidierungen und Insolvenzen, die im Folgenden anhand zweier Fallstudien ausführlicher betrachtet werden.
 

Fallstudie 1: Hermann Koch Europe

Das Traditionsunternehmen Hermann Koch Europe wurde 1914 gegründet und stellt an zwei Standorten Kunststoffverpackungen (insbesondere Tiegel, Spender und Flaschen) für die Kosmetikindustrie her. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette mit Produkt- und Designentwicklung, Werkzeugbau, Produktion und Veredelung abgedeckt. In den vergangenen Jahren wurden Umsatzerlöse von über 20 Mio. Euro pro Jahr erzielt. Trotz gut gefüllter Auftragsbücher musste das Unternehmen Ende 2014 Insolvenz beantragen. Die Insolvenzursache Zahlungsunfähigkeit ging auf nicht vorhersehbare Liquiditätsentwicklungen außerhalb des operativen Geschäfts zurück, die im Zusammenhang mit einer vorhergehenden Umstrukturierung standen.
 
Der Insolvenzverwalter Klaus-Christof Ehrlicher von der Kanzlei Linse & Ehrlicher hatte das Unternehmen seit der erfolgten Insolvenzeröffnung erfolgreich fortgeführt und Rödl & Partner mit der Durchführung eines strukturierten und international ausgerichteten M&A-Prozesses beauftragt. Im Rahmen des Transaktionsprozesses kristallisierte sich das hohe Erwerbsinteresse von internationalen Konzernen, nationalen Wettbewerbern sowie Finanzinvestoren heraus. Während das Erwerbsinteresse der Konzerne einer Konsolidierung der Branche galt, waren strategische Wettbewerber insbesondere an den namhaften Kunden sowie dem gut gefüllten Auftragsbuch interessiert. Finanzinvestoren sahen Hermann Koch Europe im Rahmen einer „Buy-and-Build“-Strategie als sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Portfoliounternehmen oder als soliden Grundstein für weitere Zukäufe in der Branche.
 
Im Ergebnis konnte das Unternehmen im Mai 2015 erfolgreich an die industrielle Familienholding Certina übertragen werden. Certina besitzt u.a. die Mehrheitsbeteiligung an der auf Kunststoff-Flaschen für die Kosmetik-, Pharma- und Chemieindustrie spezialisierten Rebhan GmbH. Rebhan und Hermann Koch Europe bleiben innerhalb der Certina-Gruppe gleichberechtigt nebeneinander als eigenständige Firmen bestehen und ergänzen sich sinnvoll in ihrem Produktportfolio. Mit der erfolgreichen Übertragung konnten 183 Arbeitsplätze gerettet und die Standorte in Coburg und Straufhain weitergeführt werden.
 

Fallstudie 2: Ommer

Die Ommer GmbH ist ein führender Hersteller von hochqualitativen und innovativen Verpackungsfolien, technischen Folien sowie Kunststofftragetaschen mit Sitz in Lindlar (Nordrhein-Westfalen). Ommer deckt die komplette Wertschöpfungskette von Beschaffung der Rohstoffe, Extrusion mit einer Kapazität von bis zu 600 Tonnen pro Monat und eigener (Flexo-)Druckerei bis hin zur Konfektion ab. Ommer besitzt zudem eine polnische Tochtergesellschaft. In den Vorkrisenjahren wurden Umsatzerlöse von 15 bis 20 Mio. Euro jährlich erzielt. Die Kundenbasis setzt sich zu einem großen Teil aus Einzelhandel, Elektrofachmärkten, der Modebranche sowie der Lebensmittelindustrie zusammen. Gründe für die Insolvenz waren eine interne strategische Krise, ein daraus resultierender Umsatzrückgang im Bereich der Industriefolien und verspätet getätigte Investitionen.
 
Nach Insolvenzanmeldung führte der Insolvenzverwalter Dr. Peter Neu (ATN Rechtsanwälte) das Unternehmen erfolgreich fort und beauftragte Rödl & Partner mit der internationalen Investorensuche und der Durchführung eines strukturierten Transaktionsprozesses. Strategische Investoren sowie Private-Equity-Unternehmen waren vor allem am Know-how der Mitarbeiter und der Qualität der international gefragten Spezialverpackungen von Ommer interessiert.
 
Anfang des Jahres 2015 konnte erfolgreich ein neuer Investor präsentiert werden. Aufgrund einschlägiger Erfahrung und des überlegenen Übernahmekonzepts konnte sich ein Privatinvestor erfolgreich durchsetzen, der sowohl Ommer als auch die polnische Tochtergesellschaft mit insgesamt 100 Mitarbeitern übernimmt.
 

Weitere Insolvenzen und Marktkonsolidierung

Insgesamt konnten dem Bereich der kunststoffverarbeitenden Unternehmen laut Insodat im Zeitraum 2015 bis einschließlich Q2/2017 insgesamt ca. 110 Insolvenzen zugeordnet werden. Der Großteil dieser Unternehmen verzeichnet jedoch nur Umsätze unter 5 Mio. Euro, was den mittelständisch geprägten Charakter der Branche unterstreicht. Neben den bereits erwähnten steigenden und volatilen Rohstoffpreisen liegen die wesentlichen Herausforderungen für die Branche im hohen Wettbewerbs- und Konsolidierungsdruck sowie den höheren Kosten für Energie.
 
Bekräftigt werden die vorangegangenen Erkenntnisse von zahlreichen Transaktionen mit deutscher Beteiligung seit 2015. Besonders aktiv zeigt sich der Finanzinvestor 3i, der über sein bereits bestehendes Portfoliounternehmen GEKA die in die Insolvenz geratene OEKA erworben hat. Kurz zuvor hatte sich 3i erst mit der Übernahme von WEENER Plastik im Kunststoffbereich breiter aufgestellt. Zudem verstärkt sich die auf Kunststoff spezialisierte Industrieholding addfinity testa durch ihre vierte Beteiligung mit dem Spritzgusswerk Richard Rassbach. Hierdurch wird ein neuer Marktzugang erschlossen, der zu einer breiteren Diversifizierung des Kundenkreises führt.
 
Des Weiteren verstärkt Gerresheimer sein Geschäft mit pharmazeutischen Primärverpackungen für verschreibungspflichtige Medikamente und der US-Konzern Aptar Group erwirbt Mega Airless, um neue Märkte zu erschließen und im Bereich Pharma zu wachsen. Die beiden Zukäufe im Bereich Pharma zeigen, dass die Unternehmen anstreben, ihr Geschäftsmodell auf weniger zyklische Branchen zu fokussieren, um konjunkturell bedingte Absatzschwankungen zu vermindern, während z.B. die Automobil- und die Elektroindustrie sowie der Maschinenbau stärkeren Schwankungen unterliegen.
 

Bewertung börsennotierter Unternehmen im Bereich Kunststoffverpackung

Im Rahmen einer Analyse von zehn börsennotierten, global agierenden Konzernen im Bereich Kunststoffverpackungen lassen sich mögliche Unternehmenswerte anhand von Multiplikatoren bestimmen. Im Median ergeben sich für 2017 und 2018 geschätzte Umsatzmultiplikatoren von 1,9x bzw. 1,7x sowie EBITDA-Multiplikatoren von 10,2x bzw. 9,3x. Weiterhin werden EBITDA-Margen von ca. 17–18 Prozent erwartet. Die Multiplikatoren lassen sich aufgrund der Größenunterschiede, Unternehmenssituation und Margen nur bedingt auf kleine und mittlere Unternehmen oder Krisenunternehmen übertragen.
 
Darüber hinaus können Bewertungsmultiplikatoren im Rahmen einer Analyse aus bereits abgeschlossenen Transaktionen im Bereich Kunststoffverpackungen und dabei gezahlten Kaufpreisen abgeleitet werden. Aus diesen Transaktionen haben sich in den vergangenen drei Jahren EBITDA- bzw. Umsatzmultiplikatoren von 8,4x bzw. 1,0x (Median) ergeben.
 

Ausblick

Die globale Nachfrage nach Kunststoffverpackungen wird weiter steigen. Das Bevölkerungswachstum und der steigende Wohlstand in den Schwellenländern führen zu einer höheren Nachfrage nach Konsumgütern und demzufolge auch nach Verpackungen. Des Weiteren führt der demographische Wandel in den Industrieländern, insbesondere die erhöhte Anzahl an Single-Haushalten dazu, dass vermehrt klein verpackte Einheiten nachgefragt werden. Unternehmen müssen sich jedoch dem Wettbewerbsdruck sowie höheren Rohstoffpreisen anpassen. In einer Unternehmenskrise eignet sich der Verkauf an einen neuen Investor als probates Mittel zur Rettung und Stabilisierung des Unternehmens. 

 

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Hendrik Blumenstock

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