Glosse mit Fußnoten – oder Bayern wird immer normaler: BGH V ZR 266/14, BAG 2 AZB 26/16 und ihre Bedeutung für Bürgermeister und Gemeinden

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​veröffentlicht am 10. Januar 2017

 

Bayerns bemerkenswerte Besonderheiten füllten Bibliotheken – einst jedenfalls. Doch nach dem Untergang mehrerer Ausnahmeerscheinungen im 20. ebenso wie im noch jungen 21. Jahrhundert – Reservatrechte Heer, Post, Eisenbahn († 1918),  Königtum († 1918), Bayerische Pfalz (Annexion 1945), Bayerischer Senat († 1999), Bayerisches Oberstes Landesgericht († 2006) – wird nun mit den Entscheidungen der beiden Bundesgerichte eine weitere Besonderheit perdu sein. Doch diesmal trifft es nur eine exklusive Rechtsauslegung.

 

Art. 38 Abs. 1 BayGO als Vertretungsrecht ohne Vertretungsmacht  

Wie die Kommunalverfassungen anderer Flächenbundesländer1 bestimmt auch die Bayerische Gemeindeordnung, wer die Kommune im Rechtsverkehr vertritt: „Der erste Bürgermeister vertritt die Gemeinde nach außen”, Art. 38 Abs. 1 BayGO. In den anderen Bundesländern werden die entsprechenden kommunalrechtlichen Bestimmungen in Literatur und Rechtsprechung seit jeher dahingehend ausgelegt, dass damit die Vertretungsmacht des Bürgermeisters im Außenverhältnis allumfassend und unbeschränkt ist. Damit wird in anderen Bundesländern die Kommune durch die Erklärungen des Bürgermeisters auch dann verpflichtet, wenn es an einem erforderlichen Beschluss des zuständigen Organs (Rat, Ausschuss) fehlt.2 Nicht so in Bayern. In Bayern verneinen die Gerichte vielmehr in ständiger Rechtsprechung eine unbeschränkte Vertretungsmacht des ersten Bürgermeisters.3 Begründet wird diese Rechtsauffassung u.a. mit dem Normengeflecht, in das Art. 38 BayGO eingebunden ist, den Gesetzesmaterialien, dem Herkommen und gewohnheitsrechtlichen Ansätzen ob der Langjährigkeit der ständigen Rechtsprechung. Mit dieser abweichenden Rechtsauffassung wird die Gemeinde, so der erste Bürgermeister nicht in eigener Zuständigkeit handelt, nur verpflichtet, wenn auch der erforderliche Ermächtigungsbeschluss des zuständigen Organs vorliegt.

 

Wer nun den Dissens der Rechtsauffassungen für einen bloßen Luftzug im Elfenbeinturm hält, möge an die praktischen Auswirkungen denken: Hat der Bürgermeister ungeachtet des Fehlens eines kommunalrechtlich erforderlichen Ermächtigungsbeschlusses Vertretungsmacht, ist ein von ihm getätigtes Geschäft stets wirksam. Die Kommune kann gegen den kompetenzwidrig handelnden Bürgermeister zwar beamtenrechtliche Sanktionen und/oder zivilrechtliche Schadensersatzforderungen geltend machen, ist aber an das Geschäft gebunden. Kommt dagegen dem Bürgermeister beim Fehlen eines kommunalrechtlich erforderlichen Ermächtigungsbeschlusses keine Vertretungsmacht zu, ist die Gemeinde nicht gebunden. Dem Vertragspartner bleibt dann nur, vom vertretungsmachtlosen Bürgermeister Schadensersatz zu fordern (§ 179 BGB). Vertragspartnern wird es jedoch stets genehmer sein, dass die (nicht insolvenzfähige) Kommune gebunden ist, als sich nur hilfsweise an einen Bürgermeister persönlich halten zu müssen, dem dann doch irgendwann die Mittel ausgehen.

 

Rechtsprechungsschwenk der Bundesgerichte für Bayern

Allerdings hätte sich die „bayerische” Rechtsauffassung kaum so weit manifestieren können, wenn sich Bundesgerichte für Art. 38 Abs. 1 BayGO ebenso festgelegt hätten, wie für die entsprechenden kommunalrechtlichen Bestimmungen anderer Bundesländer. Doch für (vor?) Bayern zuckten auch Bundesgerichte. So entschied das Bundesarbeitsgericht 1959, aus Art. 38 Abs. 1 BayGO könne nicht geschlossen werden, dass dem ersten Bürgermeister unabhängig von seiner Zuständigkeit im internen Bereich eine die Gemeinde bindende Vertretungsmacht nach außen eingeräumt wird (BAG, U. v. 8. Dezember 1959, 3 AZR 348/56). Und der BGH hat, als er sich 1979 zum letzten Mal für Bayern mit der Frage zu befassen hatte, gekniffen: „Welcher Ansicht zu folgen ist, kann im Streitfall dahinstehen” (BGH, U. v. 20. Februar 1979, VI ZR 256/77, Rz. 29).

 

Nun aber der Rechtsprechungsschwenk von BGH und BAG: Mit Beschluss vom 18. März 2016 erklärte der 2. Senat des BGHs, dass nach seiner Auffassung dem bayerischen ersten Bürgermeister durch Art. 38 Abs. 1 BayGO eine umfassende Vertretungsmacht im Außenverhältnis eingeräumt wird. Zugleich fragte er beim zuständigen 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts an, ob dieser daran festhält, dass eine bayerische Gemeinde durch ihren ersten Bürgermeister nur dann wirksam vertreten wird, wenn die nach der gemeindeinternen Kompetenzverteilung für die notwendige Rechtshandlung erforderliche Beschlussfassung des Gemeinderats erfolgt ist (BGH V ZR 266/14). Das BAG verneinte, d.h. hält nicht an der Entscheidung von 1959 fest und schließt sich damit der Rechtsauffassung des BGH an (BAG, B. v. 22. August 2016, 2 AZB 26/16). Sollten bayerische Gerichte nun nicht von sich aus diesen Entscheidungen folgen, sondern an ihrer bisherigen ständigen Rechtsprechung festhalten, wird wohl spätestens der Instanzenzug zur Korrektur führen. BGH- wie BAG-Entscheidung sind damit im Interesse der Rechtssicherheit wie Rechtseinheit nur zu begrüßen. Denn dem Vertragspartner aufzubürden, er müsse prüfen, ob der Bürgermeister beim Abschluss eines Rechtsgeschäfts im Rahmen seiner originären Zuständigkeit handelte, oder, falls nicht, ein erforderlicher Beschluss des zuständigen Organs vorliegt, dieser dann auch formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, usw., belastet ihn mit Beschwernissen, die sonst für den Vertragsschluss mit juristischen Personen zivilrechtlich nirgendwo gelten und ist damit unzumutbar. Zugleich sollte für die zivilrechtliche Wirksamkeit eines mit einer Kommune geschlossenen Rechtsgeschäfts egal sein, ob es in Ulm, Neu-Ulm oder sonst wo im Land geschlossen wurde.

 

Paradigmenwechsel für die bayerischen Gemeinden, nur graduelle Änderung für die Bürgermeister

Das Ergebnis stimmt also. An Bayern nagt gleichwohl die Frage, ob sich BGH und BAG die Entscheidungen auch „getraut” hätten, wenn das „Bayerische Oberste” 2006 nicht zu Grabe getragen worden wäre. Wie diese Frage auch beantwortet werden mag, für die bayerischen Gemeinden bedeuten die Entscheidungen einen Paradigmenwechsel; sie werden zivilrechtlich auch dann verpflichtet, wenn ein kommunalrechtlich erforderlicher Ermächtigungsbeschluss nicht vorliegt. Für die bayerischen Bürgermeister – Gleiches gilt natürlich für die Landräte – ist es hingegen nur eine graduelle Änderung: Handeln sie kompetenzwidrig, tragen sie das Risiko, von der Gemeinde in Regress genommen zu werden, statt – wie bisher – vom enttäuschten Vertragspartner. Möge die (Vertretungs-)Macht mit ihnen sein!

 

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1 Vgl. z.B. § 42 Abs. 1 S. 2 GemO BaWü, § 63 Abs. 1 GO NRW, § 47 Abs. 1 S. 1 GemO RP, § 31 Abs. 1 ThürKO.
2 Z.B. für Baden-Württemberg: BGH U. v. 20. April 1966 (V ZR 50/65); für NRW: BGH U. v. 20. September 1984 (III ZR 47/83); für Rheinland-Pfalz: BGH U. v. 16. November 1978; für das Saarland: BGH U. v. 06.03.1986 (VII ZR 235/94), u.v.m.
3 BayObLGZ 1952, S. 271 ff.; BayVerfGH 25, S. 27, 43; BayVGH, BayVBl. 2012, 177; für die Zivilgerichtsbarkeit s. jüngst etwa OLG München, B. v. 28. Januar 2013 (34 Wx 390/12), für die Verwaltungsgerichtsbarkeit s. jüngst etwa BayVGH, B. v. 27. Mai 2014 (15 ZB 13.105)

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