Die Schätzung des Auftragswerts im Vergabeverfahren

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​veröffentlicht am 8. Oktober 2018

 

Vor Einleitung eines Vergabeverfahrens muss der öffentliche Auftraggeber entscheiden, nach welchen Rechtsvorschriften seine Ausschreibung durchzuführen ist. Um festzustellen, ob der Schwellenwert für eine EU-weite Ausschreibung erreicht bzw. überschritten ist, muss eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung erfolgen. Hierbei hat der Auftraggeber – je nachdem, ob er eine Bau- oder Liefer- bzw. Dienstleistung vergibt – unterschiedliche gesetzliche Vorgaben zu beachten. Die Auftragswertschätzung ist nicht zuletzt auch für eine etwaige Aufhebung des Verfahrens wegen Unwirtschaftlichkeit von Bedeutung.

 

Das deutsche Vergaberecht ist zweigeteilt: Das nationale Vergaberecht, das sich nach den Vorgaben des jeweiligen Bundeslandes richtet, steht der EU-weiten Ausschreibung nach den Regelungen des GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) gegenüber. Entscheidend für die Anwendung der passenden Rechtsvorschriften sind die sogenannten EU-Schwellenwerte. Aktuell liegt der Schwellenwert für Bauleistungen bei 5,548 Millionen Euro/netto, für Liefer- und Dienstleistungen bei 221.000 Euro/netto. Ab Erreichen dieser Beträge ist eine EU-weite Ausschreibung erforderlich. Der öffentliche Auftraggeber muss daher stets eine Auftragswertschätzung vornehmen, um zu entscheiden, wie die Vergabe ausgestaltet werden kann.

 

Ausgangslage

Gesetzliche Grundlage für die Auftragswertschätzung ist § 3 VgV (Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge – Vergabeverordnung). Die Vorschrift ist sowohl für Bau-, als auch für Liefer- und Dienstleistungen anwendbar. Im Falle eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer prüft diese ihre Zuständigkeit und damit das Erreichen der Schwellenwerte von Amts wegen.

 

Die Auftragswertschätzung ist im Wege einer objektiven Prognose zu erstellen. Der öffentliche Auftraggeber hat sich sorgfältig und ernsthaft zu bemühen und alle wesentlichen Erkenntnisquellen heranzuziehen. Er darf sich insbesondere nicht auf veraltete Quellen verlassen, sondern muss alles Zumutbare unternehmen, um an verlässliche Informationen zu gelangen. Ist die Auftragswertschätzung ordnungsgemäß erfolgt, ist keine Korrektur des Verfahrens notwendig, falls die Angebote wider Erwarten doch über dem einschlägigen Schwellenwert liegen. Umgekehrt hat der Auftraggeber sein Verfahren jedoch nach den Regelungen des GWB abzuschließen, auch wenn die Angebote entgegen seiner Annahmen unterhalb des Schwellenwertes verbleiben.

 

Im Falle einer nicht ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung ist das Verfahren hingegen angreifbar, wenn die eingereichten Angebote – abweichend von der Schätzung – über dem Schwellenwert liegen. Eine rechtmäßige Aufhebung wegen Unwirtschaftlichkeit ist dann nicht möglich. Es liegt kein „anderer schwerwiegender Grund” vor, der die Aufhebung rechtfertigen könnte. Den Bietern stehen möglicherweise Schadensersatzansprüche zu.

 

Grundsätze der Auftragswertschätzung

Im Rahmen ihrer Auftragswertschätzung hat die ausschreibende Stelle die Gesamtvergütung, sämtliche Optionen, Vertragsverlängerungsmöglichkeiten, Prämien und Zahlungen an den Bieter sowie auch Leistungen Dritter einzubeziehen. Eine gezielt niedrige Schätzung des Auftragswerts ist unzulässig. Ein Vertrag darf zudem nicht in der Absicht aufgeteilt werden, dass der EU-Schwellenwert mit den einzelnen Vertragsteilen nicht unterschritten würde. Mithilfe einer seriösen Begründung kann der Auftraggeber eine solche Aufteilung hingegen legitimieren. Eine Rechtfertigung kommt beispielsweise über das Haushaltsrecht, die Mittelstandsförderung, technische Gründe oder selbstständige Zuständigkeiten innerhalb einer Organisationseinheit in Betracht.

 

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Auftragswertschätzung ist der Tag der Einleitung des Vergabeverfahrens. Dies ist jedenfalls die Absendung der Bekanntmachung bzw. die Kontaktaufnahme mit den Unternehmen, falls eine Bekanntmachung fehlt.

 

Teilt die ausschreibende Stelle ihren Auftrag in Lose auf, so sind alle Lose bei der Auftragswertschätzung zu berücksichtigen. Eine Addition der Lose ist im EU-weiten Verfahren dann nicht erforderlich, wenn

 

  • jedes einzelne Los kleiner als 1 Million Euro bei Bauaufträgen bzw. kleiner als 80.000 Euro bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ist und
  • die Summe der Nettowerte dieser Lose nicht mehr als 20 Prozent des Gesamtwerts aller Lose ausmacht.

 

80 Prozent des Gesamtauftrages sind demzufolge immer nach den Regelungen des GWB auszuschreiben, 20 Prozent können nach nationalem Recht vergeben werden. Für die oben beschriebene Zuordnung gibt es keine zeitlichen Vorgaben. Die einmal getroffene Zuordnung ist jedoch bindend. Der Auftraggeber hat seine Entscheidung über die Anwendung des jeweiligen Rechts zu dokumentieren.

 

Bei Aufträgen über Liefer- und Dienstleistungen, für die kein Gesamtwert angegeben wird, ist maximal der 48-fache Monatswert heranzuziehen. Dies betrifft vor allem Dauerschuldverhältnisse. Damit sollen Kleinaufträge auch bei längerer Laufzeit aus dem Kartellvergaberecht ausgenommen werden. Anders ist dies bei Konzessionen: Hier ist immer die gesamte Laufzeit der Konzession entscheidend.

 

Auftragswertschätzung bei Bauleistungen

Für die Auftragswertschätzung einer Bauleistung ist der Gesamtwert aller Aufträge für die Bauleistung oder das Bauwerk maßgeblich, einschließlich aller vom Auftraggeber gestellten Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die mit der Bauleistung zusammenhängen. Entscheidend ist also das Gesamtprojekt, wobei sowohl die sachlich-funktionalen als auch die zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen sind. Zum Auftragswert gehören damit beispielsweise die Baustelleneinrichtung, sämtliche Stoffe und Bauteile, alle Bauleistungen sowie die Baukosten. Nicht zum Auftragswert zu rechnen sind hingegen etwa die Grundstückskosten, die Kosten für die Bereitstellung des Grundstücks, öffentliche Erschließungskosten, Vermessungskosten sowie Kosten für bewegliche Ausstattung und Einrichtung.

 

Die nachstehenden Beispiele sind aus der Rechtsprechung zur Auftragswertschätzung bei Bauleistungen hervorgegangen:

 

  • Der Einbau einer Essensausgabeanlage im Rahmen des Umbaus einer Mensa ist Teil des den gesamten Umbau umfassenden Bauvorhabens.
  • Ausbaggerungsarbeiten an einer Wasserstraße bilden dann keine Einheit mit späteren Ausbauarbeiten an derselben Wasserstraße, wenn die Ausbaggerung als laufende Unterhaltungsmaßnahme durchgeführt wird und keine Vorarbeit für den eigentlichen Ausbau darstellt.
  • Die abschnittsweise vergebenen Bauleistungen für eine Ortsumgehung sind immer dann als eine einheitliche Leistung anzusehen, wenn sie auf einer einheitlichen Planung beruhen. Besteht hingegen zwischen den Bauabschnitten kein zwingender technischer und praktischer Zusammenhang, weil jeder Bauabschnitt für sich in verkehrstechnischer Sicht eine sachgerechte Nutzung ermöglicht, können die Abschnitte getrennt voneinander betrachtet werden.
  • Das Einfügen von Akustikplatten im Deckenbereich eines Opernhauses bildet nicht nur eine Einheit mit der vorherigen Anhebung der Stuckdecke, sondern mit der gesamten Sanierung des Opernhauses.

Kontakt

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Dr. Julia Müller

Rechtsanwältin, Fachanwältin für Vergaberecht

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